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Juni 2025
Gewesen:
Wittener Tage für neue
Kammermusik – Festival Achtbrücken in Köln
Angekündigt:
Ritual, Brückenmusik und romanischer Sommer in Köln – neue
Opern
in Köln, Wuppertal und Bonn – Moers Festival, Blaues Rauschen
und
Park Sounds u.v.a.m.
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[Wittener Tage für neue Kammermusik]
Die
Zukunft war früher auch besser. Das wusste bereits Karl
Valentin.
Der 'unbedingte Zukunftsglaube' der 'heroischen Generation
von
Neutönern nach dem zweiten Weltkrieg' kann laut Patrick
Hahn,
künstlerischer Leiter der Wittener
Tage für neue Kammermusik,
heute eher befremden und tatsächlich: Bereits Erreichtes
bröckelt
mit vor kurzem noch nicht vorstellbarer Geschwindigkeit,
vom Morgen
ist nichts Gutes zu erwarten. Für Zukunftsoptimismus
scheint da kein
Platz zu sein. Wer mit der Gnade der frühen Geburt
gesegnet ist,
kann sich mit Beschwörungen der guten, alten Zeit über
Wasser
halten, die Generationen Y und Z müssen sich etwas
anderes einfallen
lassen. Das haben Lucia
Kilger,
Friederike
Scheunchen
und Clemens
K. Thomas
als Leitende des Ensemble
Scope
getan: Für das intermediale Eröffnungskonzert mit dem Ensemble
Musikfabrik
widmen sie sich dem Thema Filter, indem sie diese
allgegenwärtigen,
von unsichtbarer Hand gesteuerten Algorithmen, die uns
in
selbstgenügsame Blasen bannen, den letzten Anflug von
Authentizität
zerstören und mutmaßlich den Untergang des Abendlandes
herbeiführen, als kreatives Tool verwenden. Das Ergebnis
ist ein
durchkomponiertes Konzert mit Musik, Video, Licht, Tanz
und
Performance, in dem die Grenzen zwischen den Medien und
den Werken
gleichermaßen verschwimmen. Nach Alex
Paxtons
kunterbunter Musikcollage (mit etwas albernen
Gesangseinlagen) zu
einer ebenso kunterbunten Videocollage von Ben Giles (Scrunchy
Touch Sweetly to Fall)
materialisiert sich die Performerin Ria
Rehfuss
wie ein Alien zu geheimnisvoll brodelnder,
unterschwellig
pulsierender Musik von Lucia
Kilger
(shavryon).
Clemens
K. Thomas'
Auseinandersetzung mit Gewaltvideos im Netz (Take
Me to Funkytown wirkt etwas unbeholfen,
soll aber auch seine Überforderung und
Ohnmacht widerspiegeln. Anschließend verwandelt Jessie
Marino
in No
Salt
Bartóks Violinduo
Nr. 23
in einen enervierenden, sich zuspitzenden Klangstrom, zu
dem Rehfuss
als weiß gewandete Gestalt, halb Braut, halb gefallener
Engel, eine
Pfauenfeder balanciert. Zum Abschluss kredenzt Nicolas
Berge
mit Terminally
Online Aliens
eine trashige, wild zusammengewürfelte Video- und
Musikmixtur. Rein
musikalisch hielt sich der Mehrwert des Ganzen in
überschaubaren
Grenzen (was besonders bewusst wird, wenn man sich mit
dem WDR
Konzertplayer nur der Tonspur
widmet), als Gesamterlebnis hatte es aber durchaus
Unterhaltungswert
und nebenbei habe ich als von Katzen- und Foltervideos
weitgehend
Unbeleckte einen kleinen Einblick bekommen, was
heutzutage auf den
gewöhnlichen Internetnutzer so alles einprasselt.
Mit
Grenzüberschreitungen ganz anderer Art befasst sich das Trickster
Orchestra,
das unter der Leitung von Cymin
Samawatie
und Ketan
Bhatti
neben dem herkömmlichen europäischen Instrumentarium
auch die
chinesische Sheng (Mundorgel), die japanische Koto und
den
albanischen Kanun (Kastenzither) versammelt. Damit wird
die Musik
nicht neu erfunden, aber man muss auch keine
folkloristisch
aufgeladenen Beliebigkeiten à la Weltmusik befürchten.
Filigrane,
tastende Momente, langsame Steigerungswogen und dichte,
expressiv-energetische Phasen wechseln einander ab und
lassen
ungewöhnliche, reizvolle Klangverbindungen entstehen. In
Samawaties
Revamp
z.B.
begegnen
sich Koto und Paetzold Blockflöten,
Bhattis
Dance
for Nerds
ist von kantigen Rhythmen geprägt und in George
Lewis Nomads
gibt
Wu Wei ein fulminantes Solo auf der Sheng zum Besten. Leider
trübte
zum Abschluss Ondřej
Adámek als Zauberrezepturen raunender und Blumen
streuender
Zeremonienmeister mit seinem gedanklich
überladenen und musikalisch dürftigen Stück
Power
of Flowers meinen
Gesamteindruck. Gemeinsam mit dem Trickster Orchestra
konnte Lewis
übrigens den Liminal
Music Prize entgegennehmen, mit dem der WDR bereits
zum zweiten
Mal die Überschreitung traditioneller und kultureller
Grenzen
auszeichnet.
Die
diesjährige Portätkomponistin Cassandra
Miller scheint die von der Neuen Musik einst
gesteckten Grenzen
weniger zu überschreiten als gar nicht erst zur Kenntnis
zu nehmen.
Die gebürtige Kanadierin hat in ihrem Heimatland und in
den
Niederlanden studiert, lebt heute in London und geht mit
einer
erfrischenden Unbedarftheit ans Werk. Ob Vogelgezwitscher,
Fiddlemusic oder Beethovenmotive, alles was sie
unmittelbar anspricht
und berührt, dient ihr als Inspirationsquelle. Ihr Umgang
damit ist
intuitiv, das Material wird nicht entwickelt sondern
kreist um sich
selbst. Im Rahmen eines Gesprächskonzerts bringen das Quatuor
Bozzini und die Sopranistin Juliet
Fraser kammermusikalische Werke zu Gehör und in
diesem kleinen
Format funktioniert Millers Herangehensweise besser als
gedacht. Die
Musik entwickelt einen melancholischen Sog und strahlt
auch dann noch
einen eigenwilligen Reiz aus, wenn sie haarscharf an der
Sentimentalitätskante vorbeischrammt. Als problematischer
erweisen
sich die bzgl. Dauer und Besetzung größeren Formate: In
ihrem neuen
Werk The
Years
für Vokalsextett (Exaudi)
und Streichtrio verliert sich zwischen auf- und
abschwellenden
Gesangswogen, Instrumental- und Sprechpassagen der rote
Faden und die
deutsche Erstaufführung von Bismillah
meets the Creator in Springtime,
bei dem Miller
und die Geigerin Silvia
Tarozzi als
Solistinnen den
im Raum verteilten, etwas desorientiert wirkenden
Mitgliedern des WDR
Sinfonieorchesters gegenüberstehen, läuft gänzlich aus
dem Ruder.
Das in Teilen improvisierte Werk, in das
„sicherheitshalber ein
bisschen Bach“ eingeflossen ist, entwickelt sich zum
schamanistischen Erweckungsritual, das zwischen Tröten
und Quäken
von Miller mit einer Art Urschrei gekrönt wird.
Vorausgegangen waren
in dem Orchesterkonzert unter der Leitung von Elena
Schwarz zwei konventionelle Werke, die mich
ebenfalls nicht
völlig überzeugt haben. Lisa
Illeans An
acre ringing, still
verliert sich allzu sehr in romantischen Gefilden. In Malika
Kishinos Quinta
Materia
lässt zunächst der Cellist Nicolas
Altstaedt aufhorchen, der mit kräftigem Strich
Akzente setzt,
doch letztlich bleibt es bei solider Orchesterarbeit.
Bei
aller Sympathie für neue Wege, was Sara
Glojnarics
Songs
for the end of the world in
einem Festival für neue Kammermusik verloren haben, hat
sich mir
nicht erschlossen. Das sogenannte Kopfhörerkonzert befasst
sich mit
dem Unglück der Titanic, wobei vor allem die Frage
umkreist wird, ob
bzw. was die Bordkapelle beim Untergang gespielt hat. Sarah
Maria Sun macht als Moderatorin und Sängerin das
Beste daraus,
aber Anekdoten, O-Töne von Überlebenden und vom Kuss
Quartett live gespielte, teils elektronisch
aufgemotzte
Musikeinlagen sind so unambitioniert aneinandergereiht,
dass das
Ganze sogar als Hörspiel oder Podcast durchfällt. Das
einzig
Interessante sind die Reaktionen der Zuhörenden, die wie
die
Musizierenden aufgefordert werden, sich vorzustellen, was
zum
Zeitpunkt des eigenen Todes erklingen soll. Das Publikum
geht voll
mit und ist schließlich so aufgeweicht, dass bei der
abschließenden
Oberschnulze My
Heart will go on
vereinzelt sogar Tränen der Rührung aufblitzen. Das habe
ich in
Witten noch nicht gesehen und führt direkt zum nächsten
Thema.
Seit
Jahrzehnten bekommen wir – ob im Konzert, in der Politik
oder in
der Psychotherapie – gebetsmühlenartig zu hören, dass wir
mehr
auf unsere Gefühle achten sollen, gerade der Neuen Musik
wurde ihre
Verkopftheit immer wieder zum Vorwurf gemacht, doch
inzwischen ist
dieses Mantra längst zum Bumerang geworden. Denn allzu oft
und
oftmals geschickter als einem lieb ist werden die Gefühle
von den
Falschen bedient, so dass die eigentliche Gretchenfrage
heute lautet:
Wie hast du’s mit der Rationalität? Mit diesem Dilemma
befasst
sich in gewohnt ironischer Manier (inklusive einer
ordentlichen
Portion klamaukiger Selbstdarstellung) Johannes
Kreidler, der mit seinem 'physikalischen
Expressionismus' Gefühle
– im konkreten Fall Seufzer
– sammelt und wie ein Insektenforscher aufspießt und zur
Schau
stellt. Im Märkischen Museum türmen sich in schwarze
Blöcke
gefräste Seufzerschallwellen zu einer Klagemauer, den
Seufzern wird
der rote Teppich ausgerollt, Murmeln murmeln und
Grübelmaschinen
grübeln. Mit Giordano
Bruno do Nascimento hat sich Kreidler zudem einen
ausgewiesenen
Death Metal-Experten an die Seite geholt, der sich
hervorragend aufs
Growling versteht und mit dieser Technik – statt wie sein
Namensvetter selbst auf dem Scheiterhaufen zu landen – die
Mitglieder einer gesichert rechtsextremen Partei stimmlich
in die
Hölle schickt. Vom Laubbläser beflügelt läuft Nascimento
zu
Hochform auf, auch das Publikum darf sich seufzend und mit
Glissandoflöten bewaffnet beteiligen und so entsteht ein
überbordendes Tohuwabohu, das im Konzertmarathon für
willkommene
Auflockerung sorgte.
An
die heroische Generation der Neutöner knüpft Ming
Tsao mit seiner Bearbeitung von Karlheinz
Stockhausens Plus-Minus
an, einer offenen Partitur, die dem Ausführenden viel
Freiheit bei
der Umsetzung bietet. Ming Tsaos Version für zwei Klaviere
arbeitet
mit elektronischen Transducern, die den Korpus zum
Vibrieren bringen
und für Rückkopplungsschleifen sorgen. Unter den Händen
des
GrauSchumacher
Piano Duos entsteht daraus mit gewohnter Virtuosität
ein
vielschichtiger, in sich differenzierter Klangstrom, in
den man sich
gut versenken kann, der mich aber nicht über die Dauer von
fast
einer Stunde bei der Stange gehalten hat.
Insgesamt
bot der 57. Wittener Jahrgang eine nicht immer glücklich
machende
aber immerhin abwechslungsreiche Mischung, die viel
Diskussionsstoff
bereithielt. Was die Zukunft anbelangt, so hat Hahn für
die seine
gesorgt: Nach nur drei Jahren beim WDR wechselt er zum
Ensemble
Intercontemporain. Beim WDR müssen die Karten neu gemischt
werden,
wollen wir hoffen, dass sie im Spiel bleiben.
[Achtbrücken]
Die
Zukunft von Achtbrücken
sieht weniger rosig aus. Nachdem die Stadt Köln ihre
Zuschüsse
komplett gestrichen hat, steht das Festival vor dem Aus.
Die 15.
Ausgabe bot aber noch einmal zehn Tage voller Musik und
ich gestehe,
dass ich es nach dem durchwachsenen Wittener Programm
sehr genossen
habe, Neue Musik in Reinform zu hören – wie in der guten
alten
Zeit. Selbst die sonst so experimentierfreudige Kölner
Szene
präsentierte sich diesmal rein instrumental mit dem Ensemble
DEHIO (u.a. mit im
selben Augenblick,
einem sehr schönen Stück von Farzia
Fallah), dem Duo Hoitenga/Herbst
und dem Asasello
Quartett,
das mit Kaija Saariahos Nymphéa
für Streichquartett und Elektronik und George Crumbs Black
Angels
für elektrisch verstärktes Streichquartett gleich am
Eröffnungstag
die Wolkenburg zum Glühen brachte. In der Philharmonie
gaben sich
die Spitzenorchester die Klinke in die Hand, wobei
besonders das
Pariser Ensemble
Intercontemporaine herausragte. Die Interpretation
von sur
Incises
ihres Gründers Pierre Boulez, der 2025 100 Jahre alt
geworden wäre,
entfachte einen wahren Klangrausch und war gleichzeitig
so präzise,
dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Mit Kaajha
Saariahos
Lichtbogen
demonstrierte das Ensemble, was es mit der Lichtmetapher
auf sich
hat, die dem Festival diesmal als Motto diente. Zu dem
Werk, das mit
Computerhilfe entstanden ist und mit Live-Elektronik
arbeitet, ließ
sich Saariaho von Polarlichtern inspirieren und
tatsächlich: Die
Musik scheint zu flirren und zu funkeln, versteigt sich
in grelle
Höhen und schillert diffus. Der finnischen Komponistin,
die 2023 in
ihrer Wahlheimat Paris verstarb, war ein besonderer
Schwerpunkt
gewidmet; nicht weniger als 14 Werke kamen zur
Aufführung, darunter
ihr Violinkonzert Graal
théâtre mit
Carolin
Widmann und dem
SWR
Symphonieorchester sowie ihr Klarinettenkonzert D’om
le vrai sens
mit dem WDR
Sinfonieorchester. Zu diesem lies sich Saariaho
von
mittelalterlichen Teppichen inspirieren, auf denen eine
Frau und ein
Einhorn dargestellt sind, und so darf die Klarinettistin
Boglárka
Pecze als Einhorn durch die Ränge der Philharmonie
wandern und
die anderen Instrumente in ihren Bann ziehen. Saariaho
schreibt
klangschöne, sinnliche Musik und wurde nicht umsonst vielfach
ausgezeichnet, aber letztlich bietet sie keine Überraschungen,
bleibt in den Gefilden des gut Anzuhörenden, wirkungsvoll
Gesetzten,
das niemandem weh tut. Die 'Überdosis', die in Köln serviert
wurde,
machte dies deutlich. Das sich nicht nur Spitzenensembles auf
ihr
Werk verstehen, zeigte das Konzert mit dem Orchester der
Hochschule
für Musik und Tanz, das wie vier weitere Veranstaltungen im
Rahmen
des sogenannten Freihafens bei freiem Eintritt besucht werden
konnte.
Neben Saariahos Lumière
et pesanteur
brachten die jungen Leute unter der Leitung von Alexander
Rumpf zwei
gelungene neue Werke von Mitstudierenden zur Aufführung: Alex
Hren arbeitet in Switch
On mit
Hell-Dunkel-Kontrasten, bei denen hohe quirlig-nervöse
Strukturen
auf markante Bläser- und Paukenattacken treffen. Aline
Sarah Müller
widmet
sich in Horizon
& Heartbeats
mehr dem Dazwischen, das von rhythmisch grundierten
Perkussions- und
zarten Streichergesten geprägt ist.
Leider
waren nicht alle Uraufführungen eine Ohrenweide. In Hèctor
Parras
Ich
ersehne die Alpen / So entstehen die Seen, das
im Konzert mit dem WDR Sinfonieorchester zu Gehör kam,
stimmte
leider gar nichts. Verhandelt wird der Klimawandel anhand
von Texten
des österreichischen Autors Händl Klaus. Während der
weibliche
Part (Sopran Lavinia
Dames)
in einer überhitzten Dachstube schmort und die Alpen
herbeisehnt,
ist das männliche Pendant (Sprecher Thomas
Loibl) eben dort unterwegs, wobei er auf auftauende
Gletscherleichen stößt ('Uppsala, ja höpperladada!'), mit
denen er
in einen unendlich in die Länge gezogenen,
leutselig-verquasten
Dialog tritt. Dazu erklingt eine Musik, sie sich ohne die
geringsten
Raffinessen im Dauerpathos ergeht, so dass das Werk trotz
der guten
Interpreten mit Pauken und Trompeten untergeht. Händl Klaus
verfasste
auch das Libretto für Innen
/ Sisällä
von Vito
Žuraj, das mit dem Helsinki
Chamber Choir und dem Ensemble
Recherche seine deutsche Erstaufführung erlebte. Text
und Musik
befassen sich mit dem Zusammenhang von körperlichen
Einschränkungen
und Kreativität, wobei sowohl auf Künstler wie Beethoven und
Monet
als auch auf Žurajs
eigenes Stottern in seiner Kindheit Bezug genommen wird.
Dies
geschieht jedoch auf subtile Weise. Das Publikum erlebt
einen
vielschichtigen Entwicklungsprozess, der durch
Positionswechsel des
Chors angezeigt wird. Auf einen von dichtem,
bedrängendem
Stimmengewirr geprägten Auftakt folgen turbulente, sich
zuspitzende
Passagen sowie fragile, differenziert instrumentierte,
die
Verletzlichkeit zum Ausdruck bringen.
Eine
besondere Zusammenarbeit gab es in diesem Jahr mit dem Stadtgarten
und NICA,
ein
Förderprogramm für Musiker und Musikerinnen im Bereich
aktuelle
Musik und Jazz. Vier NICA-Artists wurden beauftragt,
Musik zu
Stummfilmen zu komponieren, und der Auftakt war
vielversprechend.
Thomas Sauberborn
begleitet
Dsiga Wertows Man
with a Movie Camera,
das uns nach Kiew, Charkiw und Odessa im Jahr 1929
entführt, mit
einer sehr abwechslungsreichen, eigenständigen Musik:
Lässige
Posaunenlinien über rhythmischem Grund, schillernde
Klangflächen
und treibende, jazzig Passagen ergänzt durch
Live-Samplings und
kurze Texteinlagen fügen sich in den Sog der Bilder,
ohne diese
illustrativ zu doppeln. Weniger überzeugt hat mich Jonas
Engels'
Tonspur zu Urban Gads Afgrunden.
Sie
gibt der exaltierten, sich förmlich überschlagenden
Stimme von
Marcella
Lucatelli
viel Raum, was aber weder dem Film gerecht wird noch
musikalisch
funktioniert.
Den
Abschluss des Festivals gestalteten das Ensemble
Modern und das SWR
Vokalensemble. In Yiran Zhaos
The
unreachable shore
begegnet uns noch einmal das Gletschereis, von dem sich
die
Komponistin inspirieren ließ, und gleich zum Auftakt
hören wir ein
zartes Knacken, Klirren und Rieseln. Doch in dem sehr
klangsinnlichen
Werk, das sich mit Grenzüberschreitungen und
Perspektivwechsel
befasst, sorgen insbesondere die Bläser mit teils
schrillem, sich
zuspitzendem, überschlagendem Ton für sehr
energiegeladene
Passagen. Mit einem ganz anderen Naturphänomen und zwar
der
Biolumineszenz befasst sich der baskische Komponist Unai
Urkola Etxabe in seinem neuen Werk what
shines beneath. Seine
ebenfalls sehr sinnliche, haptische Musik nimmt das
Publikum mit auf
eine Reise durch ein Unterwasserwelt, die von
geheimnisvoll
leuchtenden Wesen belebt ist. Auch Christian
Masons The
Oddity Effect für
Ensemble und Chor taucht ein in die Weiten des Meeres,
indem er sich
dem Schwarmverhalten von Fischen widmet, landet aber
brutal im Hier
und Jetzt. Nach einem lyrischen Beginn führt der Text
von Paul
Griffiths in die Verwerfungen unserer politischen
Gegenwart,
indem er scheinbar wahllos gesammelte, alltägliche
Schlagzeilen
auflistet, die der Chor (auf Deutsch aber trotzdem
schwer
verständlich) hastig hervorgestoßen, teils mit
Megaphonen bewaffnet
dem Publikum entgegenschleudert. Die Frage nach
Zugehörigkeit und
Andersartigkeit (oddity) gibt es nicht nur bei Fischen
und offenbar
haben wir Menschen mehr als diese mit einer zunehmenden
Schwarmdummheit zu kämpfen (die aber immerhin ausreicht,
um die
Meere leer zu fischen!).
10
Tage voller Musik, ich habe längst nicht alles gehört,
nicht alles
Gehörte hier aufgegriffen und dieses nur angetippt. Auf
die Premiere
von Saariahos Oper La
Passion de Simone
im Staatenhaus werde ich in der nächsten Gazette
eingehen.
Köln
wird auch weiterhin eine Hochburg der Musik bleiben,
aber Achtbrücken
wird fehlen. Es steht zu hoffen, dass sich die Kräfte
bündeln (und
die nötige Unterstützung erhalten), um eine
Nachfolgeaktion auf die
Beine zu stellen.
[Termine im Juni]
Köln
Am
1.6. startet eine neue Konzertreihe, die sich bis November
jeweils am
1. eines Monats dem Thema Ritual
widmet, und im Rahmen der Brückenmusik
wird vom 18. bis 29.6. das Innere der Deutzer Brücke mit Koumé
von
Éliane Radigue bespielt. Beim romanischen
Sommer kommen Werke von Stockhausen, Giorgio
Netti und Sven-Ingo
Koch
sowie im Rahmen eines Konzerts in der Kunststation
Sankt Peter mit dem Ensemble Tra
i Tempi ein neues Stück von Michael
Veltman zur Aufführung. In der Kunststation
finden außerdem an jedem Samstag im Juni Lunchkonzerte statt
(am
21.6. mit dem Trio
Abstrakt).
In
der Philharmonie stehen der Cellist Abel
Selaocoe und das Ensemble
Resonanz am 15.6.,
die Organistin Iveta Apkalna
und
das Alinde Quartett
am
17.6.,
die Musikfabrik am
23.6.
und Musik von Unsuk Chin am 29.6.
auf dem Programm. Die Hochschule
für Musik und Tanz kündigt neue Musik mit Studierenden der
Klasse Blumenthal am 17.6.,
ein Konzert des Instituts für Neue Musik am 24.6.,
ein Programm rund um Hans-Werner Henze ebenfalls am 24.6.,
die Reihe 'Adventure' mit der Musikfabrik
am 27.6.
und moderne Klaviermusik am 29.6.
an. In der Alten
Feuerwache
erwarten uns ein Bild-Ton-Projekt zum Thema 'Heimat' am 25.6.
und
MAM, die
Manufaktur
für aktuelle Musik,
am 29.6.. Im Stadtgarten
stehen NICA-Artists
am 5.6.
und 11.6.
und das Ensemble Garage
am
21.6.
auf der Bühne, die Plattform
nicht dokumentierbarer Ereignisse präsentiert am 1. und
24.6.
Konzerte, am 4.6.
erwartet uns im o-ton ein
'Experimental Guitar Evening', in der Kunsthochschule
für Medien sind im Rahmen der Reihe 'soundings' Pierre
Berthet und Rie
Nakajima
am 5.6.
sowie Tintin Patrone
am
26.6.
zu Gast, das Asasello
Quartett startet seine Jubiläums-Konzertreihe 'Wir und
die
schöne neue Welt von Gestern' mit einem Streichquartett von Márton
Illés am 6.6.
und einer Zusammenarbeit mit Wladimir Kaminer am 13.6.,
das Japanische Kulturinstitut
schlägt am 12.6.
eine Brücke zwischen fernöstlicher und westlicher Musik, im
Rahmen
der WDR-Reihe 'Musik
der Zeit' wird am 21.6.
ein neues Werk von Chaya
Czernowin aus der Taufe gehoben, das Part-Ensemble
präsentiert am 14.6. 'Bach aktuell' und das Ensemble
Consord transferiert am 28.6. im artheater
mit ignorance
is strength
dystopisch inspirierte Rock- und Popmusik in die eigene
Klangwelt. Im
Staatenhaus kommt am 27.6. Philippe
Manourys Oper Die
Letzten Tage der Menschheit nach
Karl Kraus zur Uraufführung, auf die man sich bei einer öffentlichen
Probe am 20.6. und einem Komponistenporträt am 22.6.
einstimmen kann.
Einblicke
in die freie Szene bekommt man bei ON
Cologne
und Noies,
der Zeitung für neue und experimentelle Musik in NRW,
jeden 2. und 4. Dienstag im Monat sendet
FUNKT
ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus
Köln, jeden 1. und
3. Mittwoch im Monat wird der Ebertplatz von der Reihe
Bruitkasten
bespielt und am letzten Mittwoch im Monat erwartet uns
die Soirée
Sonique
im LTK4.
Fast täglich gibt es interessante Konzerte im Loft
(z.B. das Helix-Festival vom 3. bis 7.6., das sich mit
soghaften Tempoströmen und rhythmischen
Spiralen befasst), weitere
Termine und Infos finden sich bei kgnm,
Musik
in Köln
und impakt,
sowie
Veranstaltungen
mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt
Köln.
Ruhrgebiet
Noch bis zum 7.6. findet an verschiedenen Orten des Ruhrgebiets das Festival Blaues Rauschen statt, das elektronische Musik und Klangkomposition, Licht- und Videokunst, Tanz und Performances verbindet.
Die Bochumer Tage für Neue Musik in der Melanchthonkirche stehen mit Veranstaltungen am 4., 9. und 15.6. sowie einem Orgelkonzert am 22.6. unter dem Titel Hommage á Eric Alfred Leslie Satie und in der Christ-König-Kirche kommt am 7. und 8.6. rEVOLUTION, ein Musiktheater from outer space von Interstellar 227, zur Aufführung.
Im Dortmunder domicil erwarten uns das Blaue Rauschen am 6.6. und SongofMu und The Dorf am 12.6., die Soundtrips NRW machen am 3.6. in der Parzelle Station und bei mex im Künsterhaus sind am 25.6. Antez, Elisa Metz und Bromp Trep zu Gast. In der Oper kommt am 22. und 23.6. Who Cares?, eine Bürger*innenOper von Marc L. Vogler, zur Aufführung.
Der Steinbruch in Duisburg präsentiert am 4.6. das Quartett Haustein/Klare/Jäckel/Blamberg, im Lokal Harmonie stehen The Songs of Harvey Pekar von Scott Fields am 6.6. und eine audiovisuellen Performance mit Rajesh Mehta, Marius Luczynski und Sven Sander am 20.6. auf dem Programm und im earport wird am 29.6. eine neue Ausstellung von Claudia Maas mit einem Performancekonzert eröffnet.
Rund um die Philharmonie Essen sind vom 9. bis 13.6. wieder die Park Sounds zu erleben. In der Folkwang Hochschule wird die Reihe Ex Machina am 5.6. (mit Trevor Wishart) und 26.6. fortgesetzt und am 30.6. eröffnet das Trio Abstrakt die Folkwang Woche Neue Musik. Im Rabbit Hole Theater stehen die Soundtrips NRW am 2.6., MA.RA. & The New Solarism am 14.6. und eine audiovisuelle Reise mit Verena Hentschel am 20.6. auf dem Programm und in der Neue Musik Zentrale kann man sich am 10.6. im Rahmen der Reihe FRIM zum gemeinsamen Improvisieren treffen.
Im Makroscope in Mülheim an der Ruhr bringt Honey Bizarre am 27.6. das geheimnisvolle Theremin zum Erklingen.
Düsseldorf
Die Robert Schumann Hochschule präsentiert am 5.6. eine Lecture zu Boulez' Éclat und in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste findet am 13.6. ein Werkstattkonzert zu Douze Notations von Boulez mit Schülern und Schülerinnen aus Marxloh statt. In der Tonhalle stehen am 7.6. das Signum Quartett mit neueren Werken und am 18.6. das Notabu Ensemble in der Reihe 'Na hör'n Sie mal' auf dem Programm. Abends ist das Signum Quartett übrigens noch im Rahmen einer Rock Lounge in der Destille zu Gast. The Songs of Harvey Pekar von Scott Fields kommen am 14.6. im FFT zur Aufführung. Die Kunsthalle bringt vor dem großen Umbau in der Reihe 'Im Kinosaal' Videoprojektionen u.a. von Gerhard Stäbler und Kunsu Shim (24. bis 29.6.) zur Aufführung und begleitend dazu spielt das Minguet Quartett am 25.6. u.a. eine Uraufführung von Stäbler. Vom 13.6. bis 5.7. veranstaltet der Klangraum 61 zum 12. Mal das Festival Klangräume mit einer Lecture mit Oskar Gottlieb Blarr, einer Klangexkursion im Kanal und Konzerten.
Sonstwo
Soundtrips NRW schickt vom 27.5. bis 5.6. Girilal Baars und Isabel Rößler durch NRW und lässt sie auf wechselnde Gäste treffen.
Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik kündigt die Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' am 6.6., neue Musik aus Aachen und der Region am 14.6. und das Trio 'Der vierte Zustand' am 28.6. an und die Kölner HfMT präsentiert am 20.6. am Aachener Standort einen Neue-Musik-Abend.
Die Bielefelder Cooperativa Neue Musik veranstaltet monatlich einen Jour fixe und lädt am 1.6. (bei schönem Wetter) zum Finale im Park und in der Zionskirche erwarten uns ebenfalls am 1.6. das Ensemble Earquake und am 8.6. vier Konzerte mit improvisierter Musik.
The
Songs of Harvey Pekar
von Scott Fields kommen am 13.6. im Dialograum Kreuzung
an Sankt Helena zur
Aufführung, am Theater
Bonn
hat am 15.6. die Oper Musik
für die Liebenden
von Gija Kantscheli Premiere und am 18.6. eröffnen
in der gkg Bonn
die Klanginstallationen
coin-cidence
/ humming
von
Nika
Schmitt
und Raul
Keller.
In
der Kunsthalle Hangelar im benachbarten St. Augustin
begegnen sich am
29.6.
Christina
Fuchs
und Florian Stadler.
Die Hochschule für Musik Detmold kündigt ein Konzert mit interaktiver Musik für Klavier und Live-Elektronik am 17.6., im Rahmen einer Ringvorlesung einen Vortrag über Teufelsdarstellungen in der Oper des 21. Jahrhunderts am 18.6. und ein Konzert mit dem Ensemble Earquake am 22.6. an.
Composer in Residence beim Festival Spannungen vom 15.6. bis 22.6. im Kraftwerk Heimbach ist in diesem Jahr Donghoon Shin. Neben seiner Musik erklingen auch Werke von Kurtág, Tenney, Xenakis und Berio.
Das Inselfestival auf der Museumsinsel Hombroich bringt zwar nicht mehr so viel neue Musik wie früher, aber einige zeitgenössische Klange z.B. von Georg Kröll, Rolf Riehm, Meredith Monk oder Bahar Royaee (UA) sind doch dabei.
Vom 6. bis 9.8. findet wieder das Moers Festival statt. Im Rahmen einer Kooperation mit dem Huddersfield Festival erwarten uns Uraufführungen von Maya Dunietz und Koshiro Hino sowie unter der Programmschiene hcmf sogenannte 'X perimental N counters'. Aktueller Improviser in Residence in Moers ist übrigens Bart Maris, der über das Festival hinaus am 14. und 20.6. in Aktion zu erleben ist.
Die Flötistin Pia Marei Hauser gestaltet am 4.6. im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster ein Wandelkonzert, in der Black Box erwarten uns die Soundtrips NRW am 1.6., das Trio SongofMu am 14.6. und die Performance Sounds and Feathers am 22.6. und das Ensemble Consord liefert am 15.6. am Hawerkamp 31 mit ignorance is strength Musik für den Untergang.
Vom 29. Juni bis zum 20. Juli kann die Klanginstallation Cantico von Lukas Schäfer und Luis Weiß in der Autobahnkapelle St. Raphael Nievenheim besucht werden.
Im Lichtturm in Solingen wird das Publikum am 15.6. im Rahmen der interaktiven Installation Cheercamp zu einer Endorphin-ausschüttenden Partizipation animiert.
Im Wuppertaler ort stehen ein Porträt des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko am 1.6. und The Songs of Harvey Pekar von Scott Fields am 7.6. auf dem Programm, am 3.6. erklingt im Ableger der Kölner HfMT Klaviermusik des 20. Jahrhunderts und am 20.6. hat die Kammeroper Thumbprint von Kamala Sankaram Premiere, die sich mit der Geschichte der pakistanischen Frauenrechtsaktivistin Mukhtar Mai befasst.
Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.
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