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Juni 2022


Gewesen: Stationen NRWAchtbrückenfestival in Köln – Tage für neue Kammermusik in Witten
Angekündigt:
Monheim Triennale – Schumannfest in Düsseldorf – Romanischer Sommer in Köln u.v.a.m.

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[Der Klang des bedingungslosen Grundeinkommens – Stationen NRW]

Das bedingungslose Grundeinkommen ist zwar nach wie vor umstritten und von einer Realisierung entfernt, aber zumindest in der Neuen Musik scheint es angekommen zu sein. Gerade erst hat uns Manos Tsangaris (in seinem Stück Sondage, s. Gazette Mai) nach unserer Meinung dazu befragt, jetzt wollen die Stationen es sogar zum Klingen bringen.
2008 haben sich auf Anregung des
Landesmusikrats NRW die Neue-Musik-Gesellschaften des Landes zu einem Arbeitskreis zusammengeschlossen, der unter anderem die durch NRW tourende Konzertreihe Stationen ins Leben rief. Nachdem bislang rein musikalische Themen im Fokus standen (z.B. 2019 die menschliche Stimme), hat man sich diesmal ganz gezielt aus dem Elfenbeinturm herausgewagt, einem gesellschaftlichen Thema zugewandt und hierzu auch mit dem Netzwerk Grundeinkommen kooperiert. Das macht durchaus Sinn, denn die Coronapandemie hat überdeutlich gezeigt, wie prekär die Lage vieler Kulturschaffender ist und wie wichtig Überlegungen zu einer grundlegenden existentiellen Absicherung sind.Trotzdem wird die Musik nicht einfach vor einen politischen Karren gespannt. Sie darf machen, was sie will, was schon daran deutlich wird, dass vier der fünf aufgeführten Werke ohne direkte Bezugnahme auf das Thema und zu einer Zeit entstanden, als die Diskussion um das Grundeinkommen noch nicht allgemein präsent war. Zu Gehör kommen Werke für Schlagzeug, die von einem von Rie Watanabe koordinierten Ensemble interpretiert werden. Perkussion ist oft mit Rhythmus verbunden, die Assoziation zwischen dem Zählen von Takten und dem Zählen von Geld liegt nahe, aber geraten wir dadurch nicht eher ins Reich der Notwendigkeit als ins Reich der Freiheit? Tauchen nicht eher Bilder von ineinandergreifenden Zahnrädern und Steuererklärungen als solche von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung auf? Genau mit dieser Ambivalenz arbeiten die ausgewählten Stücke. Dieter Schnebel lässt in Zahlen für (mit) Münzen (1985) Geldstücke wirbeln, rollen, klackern und klimpern, erlöst sie so aus ihrer alltäglichen Funktion und öffnet sie dem freien, lustvollen Spiel.

Bei Howard Skemptons Shiftwork/Sleigh Ride (1994) zeigt sich die Mehrdeutigkeit bereits im Titel. Mit einfachsten Materialien (Glockenstäbe, Maracas und Bohnen, die in Steingutschüsseln klackern) kreiert er rhythmische Schichten, die sich überlappen und die Musik in einem ununterbrochenen Fluss halten. Während hier die eher zarten Klänge einen sanften Sog entfalten, darf es in Louis Andriessens Workers Union (1975) ruhig etwas lauter werden. In seinem Werk für beliebige Instrumente legt er zwar die exakten rhythmischen Abläufe fest aber nicht die Tonhöhen, wobei laut Vortragsanweisung dissonante, chromatische und aggressive Klänge bevorzugt werden. Das Ergebnis ist ein virtuoser, energiegeladener, komplexer Klangstrom, bei dem es nach Andriessen sowohl auf individuelle Freiheit als auch strenge Disziplin ankommt – Eigenschaften, die auch bei der Organisation politischer Aktionen gut zu gebrauchen sind.
Mit
Endless Shrimps von Jessie Marino aus dem Jahr 2015 erklingt ein neueres Werk, bei dem auch Video zum Einsatz kommt. Dieses entführt uns in die Welt der industriellen Massenproduktion von Lebensmitteln, was man jedoch erst auf den zweiten Blick bemerkt, denn alles ist so aseptisch und clean, dass es fast schon abstrakt anmutet. Doch gerade diese Sterilität hat etwas Abstoßendes und so entsteht eine herrlich groteske Situation, die durch die quirlige Performance von Yukinobu Ishikawa und Shiau-Shiuan Hung, die mit Küchengeräten hantieren und eher unverständliche Texte einsprechen, noch verstärkt wird.

Als Auftragswerk wurde
GELD von Oxana Omelchuk aus der Taufe gehoben. Mit lediglich sechs kleinen Trommeln, deren Oberflächen mit wischenden Besen und wirbelnden Münzen in Schwingung versetzt werden, kreiert sie einen klingenden Kommentar zu Texten vor allem von Gertrude Stein. Dass die Musiker und Musikerinnen dabei Münzen im Wert von 1 % ihres monatlichen Einkommens zum Einsatz bringen sollen, bleibt dem Publikum (falls es nicht ausdrücklich im Programmheft erwähnt wird) verborgen – so wie generell die existentiellen Sorgen der Kulturschaffenden beim Kunstgenuss gerne ausgeblendet werden. Doch an diesem Abend darf man sich dazu ruhig mal ein paar Gedanken machen. Als zusätzliches Futter rezitiert Renate Fuhrmann zwischen den Stücken Texte zum Thema, so dass man voller Klänge und Anregungen nach Hause geht.

[Achtbrückenfestival in Köln]

Kaum erwacht die Kulturlandschaft aus dem Pandemieschlaf, da steht man schon vor der Qual der Wahl. Obwohl in beiden Fällen der WDR seine Hand im Spiel hat, überschnitten sich die Termine des Achtbrückenfestivals und der Wittener Tage für Neue Kammermusik, so dass ich mich ersterem diesmal nicht mit der gebotenen Gründlichkeit widmen konnte. Man könnte meinen, die Veranstalter wollen das Publikum nach der langen Abstinenzzeit vor einer Überdosis bewahren, aber ähnliche Koinzidenzen gab es auch früher.
Während sich Witten als Uraufführungsfestival für Insider versteht, wendet sich Achtbrücken an ein breiteres Publikum und bietet traditionsgemäß am 1. Mai beim Freihafen ein kostenloses Schnupperpaket. Auf der Bühne des WDR-Funkhauses stand dabei das kanadische Ensemble Constantinopel, das sich nach eigenen Angaben von seinem Landsmann Claude Vivier inspirieren lässt, aber dessen Name stand nur auf der Verpackung, drin steckten sogenannte 'weltmusikalische Exkursionen'. Auch im Konzert der Musikfabrik ging es um Kulturaustausch, wobei der Ungar Peter Eötvös natürlich längst eingemeindet ist. Musikalisch hat er sich allerdings in einer sehr konventionellen Nische eingerichtet, aus der wohl keine besonderen Vorkommnisse mehr zu erwarten sind. Mehr Anklang fand Malika Kishinos Shades of Echoes, in dem sie der wunderbar quäkigen Oboe eine Stimme gibt, die sich im Schlagzeug und den anderen Instrumenten auf vielfältige Weise fortsetzt.

Großformatiges kam im Eröffnungskonzert mit dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Cristian Măcelaru zu Gehör: Sofia Gubaidulina gehört sicher nicht zu den Speerspitzen der Avantgarde, aber sie versteht ihr Handwerk und macht einfach schöne Musik. In Stimmen....verstummen.... fasziniert vor allem der Einsatz der Orgel, die wie aus dem Nichts mit zartem Flirren anhebt und den ganzen Raum und das Orchester affiziert. Später verbündet sie sich mit Bläserfanfaren und Trommelwirbeln zu dramatischen Passagen, so dass eine lebendige Dynamik entsteht. Im Gegensatz dazu liefert Liza Lim in Annunciation Triptych zwar einen imponierenden Überbau – mit der antiken Lyrikerin Sappho, der Gottesmutter Maria und Fatimah, der Tochter des Propheten Mohammed, beschwört sie spirituelle Frauenpower, die dann auch noch mit Biolumineszenz und jubilierenden Blumen aufgeladen wird – zu hören bekommt man jedoch ein romantisches Schwelgen ohne Punkt und Komma, bei dem Nuancen auf der Strecke bleiben.
Den Vogel abgeschossen hat jedoch Ondřej Adámek, der im Konzert mit dem Ensemble Resonanz auch am Dirigentenpult stand. In seinem Werk Illusorische Teile des Mechanismus für Cello und 19 Streicher vollführen er und die Musiker und Musikerinnen exaltierte eurythmische Übungen, die sich aus Spielgesten der Instrumentalisten ableiten aber völlig überzeichnet und theatralisch wirken. Die im Programmheft angeführte Bezugnahme auf Schnebel und das instrumentale Theater von Kagel führt in die Irre, denn bei diesen war stets Witz und Doppelbödigkeit im Spiel. Adámek hingegen setzt vor allem auf Effekt, weshalb das Ensemble sich im Raum verteilen muss und schwirrende Geräuschinstrumente zum Einsatz kommen. Die musikalische Ebene ist dabei nur Beiwerk und Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung. Dafür musste er sich sogar einen Buhruf gefallen lassen, allerdings gab es – wie ich fairerweise einräumen muss – auch vereinzelt Standing Ovations.

Spannender wurde es in der Kunststation Sankt Peter, wo Martin Smolka in seiner besonderen Art des subversiven Understatements in All is ceiled die Sopranistin Juliet Fraser und den Kontrabassisten Florentin Ginot als ungleiches Paar von den entgegengesetzten Enden des Registers aufeinandertreffen ließ. Aus Henry David Thoreaus Essay A Winter Walk destilliert er einzelne Worte, die Fraser umkreist, hervorhebt, behutsam auskostet. Es entsteht ein sanfter, unaufdringlicher Fluss, der sich wie eine schimmernde Schneedecke, wie ein hellwacher Schlaf auf das Publikum senkt. In Anna Zaradnys EUPHORIAOFFURRIES begeben sich Stimme, Kontrabass und Elektronik auf eine irritierende Klangexkursion, mal kantig und knarzig, mal diffus und schwebend, ein amöbenhaftes Wesen, das sich manchmal nach außen stülpt, so dass ein Pochen des Kontrabasses elektronisch verstärkt den eigenen Körper und den ganzen Raum vibrieren lässt, dann wieder sich ganz in sich zurückzieht, so dass die Stimme im dominanten Geräuschband mehr spür- und ahnbar als hörbar ist. „Wer zweifelt, macht eine sinnliche Erfahrung, einen Fluss unendlicher Energie,“ bemerkt Zaradny dazu.

Auf andere Weise wird unsere Wahrnehmung in Marcus Schmicklers Schreber Songs verrückt. Er befasst sich darin mit Daniel Paul Schreber, dessen Vater Moritz Schreber nicht nur durch die nach ihm benannten Kleingartensiedlungen sondern auch aufgrund seiner aus heutiger Sicht martialisch anmutenden pädagogischen und orthopädischen Regulierungsapparate berühmt-berüchtigt ist. Ob hier ein Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung des Sohnes besteht, darüber streiten sich die Gelehrten und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Von Freud über Benjamin und Canetti bis Deleuze und Guattari hat sich die europäische Geisteswelt an ihm abgearbeitet, was sicher darin begründet ist, dass er mit seinem Werk Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken eine faszinierende Selbstanalyse vorlegte und in seiner Funktion als Richter im sächsischen Staatsdienst nicht wie ein gewöhnlicher Geisteskranker einfach übersehen werden konnte. Schmickler übersetzt Auszüge aus Schrebers Originaltext in eine komplexe Versuchsanordnung, bei der sich Daniel Gloger als klavierspielender Countertenor, die Kölner Vokalsolisten und das Ensemble Ruhr gegenüberstehen. Text- und Klangschichten überlagern sich zu einem unentwirrbaren Ereignis, das fasziniert und aufwühlt, gleichzeitig enerviert und ermüdet und so eine andauernde Überforderung erzeugt; brüchige Streicher, bedrängendes Stimmengewirr, elektronische Verzerrungen, um sich selbst kreisend und auf der Stelle tretend, gleichzeitig in ständigem Fluss und ungreifbar. Schmickler sieht in Schreber einen „Prototyp für eine (Über-)Lebenskunst neuen Typs“, perfekt in einer Welt in der „Identitätsbildung … nur möglich (ist) unter einem permanenten Veränderungsvorbehalt“. Abgesehen davon, dass eine derartige Übertragung pathologische Phänomene immer problematisch ist, sollte man, bevor man sich vorschnellen Glorifizierungen hingibt, berücksichtigen, dass bei Schreber – wie für derartige Krankheitsbilder typisch – das Fluide und Phantastische mit einem Hang zu zwanghaften Strukturen und rigider Geschlossenheit einhergeht – ein Phänomen, das ebenfalls gesellschaftliche Parallelen aufweist.

Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage ist man versucht, einem anderen Gedankengang Schrebers zu folgen, wonach „Entmannung unter Umständen ein Postulat der Weltordnung“ sein könnte, doch bevor ich mich jetzt in abstrusen Abschweifungen verliere, mache ich eine abrupte Kehrtwende hin zum gemütlichen Teil: Als besonderes Schmankerl lud Achtbrücken diesmal zu einem fünfstündigen Symposium ein, vollmundig angekündigt als „ein Rausch in acht Abteilungen“ und eingeschenkt vom Klangforum Wien unter der Leitung von Baldur Brönnimann. Schon bei der Ruhrtriennale durften wir es uns im letzten Jahr auf Futons bequem machen, in der Mülheimer Stadthalle kamen jetzt Speis und Trank hinzu. Insbesondere sollte – animiert vom Intendanten der Kölner Philharmonie Louwrens Langevoort, der mit gutem Beispiel voran ging – dem Wein nach Lust und Laune zugesprochen werden. Zu nennenswerten Ausfällen kam es zum Glück nicht, aber jeder konnte praktisch im Selbstversuch erkunden, ob die Veränderung der Körperposition und des Intoxikationsgrades die Musikwahrnehmung beeinflusst. Grundstürzende Veränderungen konnte ich bei mir nicht feststellen. Clara Iannottas a stir among stars, a making way hätte mir wahrscheinlich auch unter normalen Umständen gefallen. Wie ein Hauch legt sich eine fragile, flirrende, changierende Klangdecke über den Raum, hin und wieder kommt es zu Verpuffungen, als würden sich Lawinen oder scharfkantige Schollen lösen. Mirela Ivičevič entführt uns in Sweet Dreams in einen bewegten Zustand, der mal von quirligen REM-Phasen, mal von gespanntem Innehalten bestimmt wird, wobei sie sich vom Erleben ihrer Schwangerschaft und der imaginierten Wahrnehmung des ungeborenen Kindes inspirieren ließ.

Für die anschließende Ernüchterung sorgte die Deutsche Bahn, die meine mitternächtliche Zugverbindung ohne Vorwarnung ersatzlos ausfallen ließ, aber das konnte mich auch nicht mehr erschüttern.


[Wittener Tage für Neue Kammermusik]

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik waren in diesem Jahr in doppelter Hinsicht etwas besonderes. Zum einen konnte man sich nach zwei Jahren Lockdown endlich wieder live und vor Ort begegnen, zum anderen war es die letzte Ausgabe unter der künstlerischen Leitung von Harry Vogt. Zwar ist das Festival des kommenden Jahres längst terminiert (21. bis 23.4.2023) und geplant und trägt daher weiterhin seine Handschrift, er selbst wird aber nur noch als Rentner dabei sein. Immerhin wurde die Stelle weder gestrichen noch gekürzt sondern inzwischen öffentlich ausgeschrieben, so dass man der Neubesetzung mit Spannung entgegensehen kann.
Doch vorher galt es, sich vom 6. bis 8.5.2022 dem Hier und Jetzt zu widmen, wozu bei bestem Wetter der Schwesternpark einlud. Es ist wirklich erstaunlich, dass die kleine Stadt Witten nach so vielen Jahren noch Überraschungen bereit hält: Am Rande der Innenstadt verbirgt sich ein wahres botanisches Kleinod, das ein gewisser Adolf Schluckebier vor über 100 Jahren anlegen ließ, um den Schwestern des benachbarten Krankenhauses ein Refugium zu bieten. Besonders beeindruckend ist der Abwechslungsreichtum, der sich hier auf kleinstem Raum entfaltet: Man flaniert durch ein Azaleen-, Veilchen- und Alpenrosental, passiert einen Felsengarten und eine Kiefernhöhe. Da die musikalischen Interventionen schon für das vergangene Jahr entstanden, erhielten wir 2021 bereits einen radiophonen Vorgeschmack, aber mehr noch als bei anderen Formaten ist hier das Liveerlebnis unverzichtbar. So zum Beispiel wenn Kirsten Reese die Heimat:Habitate der Insektenwelt erkundet und die Teichlandschaft in einen wuselnden und wimmelnden Kosmos verwandelt, indem sie zugespielte teils elektronisch verfremdete Insektenklänge mit live performten Instrumental- und Menschenstimmen vermischt. Thomas Taxus Beck lässt aus unzähligen im Park verteilten Nistkästen nicht nur Vogelstimmen sondern auch manch Unerwartetes erklingen und mit Georg Klein kann man auf Parkbänken den Geschichten heutiger Schwestern lauschen. Auf besonders sinnliche Weise kommen diese in Lilian Beidlers Installation Lustwurzeln und Traumrinden zu Gehör: Über den weichen Mulchboden des Heidetals wandelnd dringen die aus unsichtbaren Lautsprechern aus dem Erdreich aufsteigenden Stimmen, die von Wehen und Lüsten, Tagträumen und Genüssen der Schwestern flüstern und raunen, unmittelbar in mich ein, schlagen Wurzeln in meinen Füßen und treiben poetische Blüten in meinen Gedanken.

Eine weitere Entdeckung war für mich in diesem Jahr die Komponistin Milica Djordjević, die im Gespräch mit Martina Seeber im Dialog.Portrait vorgestellt wurde und die ich – obwohl es nicht ihr Wittendebüt war – noch nicht auf dem Radar hatte. 1984 in Belgrad geboren, wo sie als Jugendliche der existentiellen Bedrohung des Krieges ausgesetzt war, lebt sie nach Studienaufenthalten in Paris und Straßburg heute mit ihrer Familie in Köln. Ihre Interessen gelten auch den Naturwissenschaften (Physik und Mathematik nennt sie als ihre große Liebe) und der bildenden Kunst (am Anfang eines Kompositionsprozesses steht oft eine Zeichnung), doch schließlich war es die Musik, die ihr Rettung und kreative Heimat bot. Ihre Werke sind voller Energie und Sinnlichkeit, sie will 'den Klang mit den Fingern berühren', was besonders im kammermusikalischen Format zur Geltung kommt. In transfixed begibt sich das Ensemble Modern auf eine faszinierende Geräuschexkursion, die von fast animalischem Stöhnen und Brüllen in subtile sirrende und knisternde Regionen entgleitet. In transfixed' erheben sich aus einem dunklen Dröhnen und Rumoren brachiale, immer drängender werdende Einwürfe der Trompete, mit denen Djordjević aus dem Treibsand dringende Hilferufe assoziiert. Dieses spannungsgeladene Neben- und Miteinander unterschiedlichster Ausdruckscharaktere auf engstem Raum bestimmt auch ihr bereits 2015 in Witten uraufgeführtes Solo für Akkordeon … mislio bi čovek: zvezde (….würde man denken: Sterne). Als weniger packend empfand ich ihr neuestes Werk O drveću, nežnosti, Mesecu... (von Bäumen, Zärtlichkeit, Mond), das im Abschlusskonzert mit dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Bas Wiegers aus der Taufe gehoben wurde. Auch Malin Bångs 20 Minuten sich im Innenklavier und im Geräuschhaften abarbeitendes Stück mareld wirkte redundant und ermüdend, aber vielleicht war ich zu diesem Zeitpunkt schon zu erschöpft, denn die Wittener Tage waren selten so vollgepackt wie in diesem Jahr. Es schien, als wollte Harry Vogt es noch einmal wissen und gleichzeitig das in den beiden Jahren des Lockdowns Versäumte nachholen. Alles andere als redundant war Enno Poppes im gleichen Konzert uraufgeführtes Werk Augen, 25 Lieder für Sopran und Kammerorchester nach Texten von Else Lasker-Schüler mit der großartigen Sarah Marie Sun als Solistin. Inspiriert von der Schönberg-Schule lässt Poppe vor allem deren expressionistische Facetten anklingen. Er greift tief in den Farbtopf, zusätzlich aufgepeppt durch die besonderen Klangnuancen von Harmonium, Gitarre und Mandoline, lässt die Vokalstimme exaltiert beben und bibbern, schickt Sturmesbrausen durchs Orchester oder lässt es schrill aufschreien – doch auf mich wirkte das allzu überdreht und plakativ, geradezu parodistisch.
Natürlich ließ es sich Vogt nicht nehmen, sowohl auf Seite der Komponierenden als auch der Interpretierenden alte Bekannte einzuladen. So durften die Herren Francesconi und Lachenmann einen Einblick in ihr Spätwerk gewähren, der sehr unterschiedlich ausfiel. Während Francesconi mit forze visibili einen sehr selbstbewussten, gekonnt durchexerzierten Trialog zwischen Violine, Klarinette und Akkordeon vorlegt, verweigert sich Lachenmann in seinem Streichtrio Nr. 2 jeder Eloquenz. Stattdessen ein langes, vorsichtiges Tasten am Rande der Stille, kleine isolierte Klangereignisse, kurzes Aufbäumen, endend in Pizzicati, die wie Fragezeichen in der Luft hängen bleiben. Auch das Arditti Quartet hatte sehr verschiedene Uraufführungen im Gepäck. Mithatcan Öcal ließ sich in Harman Sokak II von den Graffitis der gleichnamigen Istanbuler Straße inspirieren, aber die Motivfetzen, die er auf verspielte, burleske und tänzerische Weise zusammenquirlt, wirken eher nostalgisch als urban. Nina Šenk sucht in to see a world in a grain of sand die Welt im Sandkorn, indem sie die Streicher mit zartem Schlingern und nervösem Flirren in höchste Register vordringen lässt. Im Gegensatz dazu wirkt Sven-Ingo Kochs III. Streichquartett gleichzeitig überambitioniert und orientierungslos.

Auf ungewohntes Terrain begab sich Arnulf Herrmann mit
Hard Boiled Variations für Ensemble und Tanz. Das Werk folgt einem klaren Aufbau, bei dem ein mit pochenden Claves beginnender und von markanten Bläserakzenten geprägter Abschnitt in 15 ½ Variationen zunehmend beschleunigt und komprimiert wird, wodurch die anfangs transparente Struktur immer unschärfer und blockhafter wird. Während man beobachten kann, wie das Ensemble Modern gegen die fortschreitende Unspielbarkeit ankämpft, agieren fünf Tänzer und Tänzerinnen in einer Choreographie von Rafaële Giovanole auf eigenwillige Weise mit der Musik: Mal scheinen sie wie an unsichtbaren Fäden von den Klängen bewegt, stürzend und strauchelnd, in seltsamen Zuckungen sind windend und krümmend, mal scheinen sie der Musik wie einem unsichtbaren Hindernis auszuweichen. Dadurch entsteht eine starke physische Energie, die alle Beteiligten umfasst und sich in Elena Schwarz' pointiertem Dirigat zu konzentrieren scheint.

Der Musik von Milica Djordjević bin ich schon bald darauf erneut begegnet: Das Notabu-Ensemble richtete in seinem Konzert am 18.5. in der Düsseldorfer Tonhalle die Ohren auf Osteuropa und brachte dabei ihr Ensemblewerk Rdja (Rost) zur Aufführung. Wieder ist es die enorme Energie und Körperlichkeit, die mich fasziniert: Wie sich auftürmende Wellen rollen die Klänge heran, dicht und drängend wie eine Gewitterwand und gleichzeitig von fiebrigen inneren Turbulenzen aufgewühlt. Ihren Namen werde ich mir merken.


[Termine im Juni]

In der Philharmonie stehen Sofia Gubaidulina am 8.6., Philipp Maintz am 12.6., York Höller am 18.6., György Ligeti am 19.6., 20.6. und 21.6. sowie Osvaldo Golijov am 23.6. auf dem Programm. In der Kunststation Sankt Peter erwarten uns 'The late Feldman' am 3.6., ein Orgelkonzert am 5.6., 'The Sound of Rubens' am 10.6., ein neues Werk von Prasqual am 17.6., das Trio Abstrakt am 22.6. und neue Werke aus NRW und Israel am 24.6. sowie Lunchkonzerte am 4., 11., 18. und 25.6. Vom 19. bis 23.6. findet der Romanische Sommer statt. Mit dabei sind u.a. das Kommas Ensemble und das Trio Lunyala.
In der Alten Feuerwache sind das Ensemble hand werk am 21.6. und das Ensemble Garage am 26.6. zu Gast. Die Musikfabrik lädt am 13.6. und 27.6. zum Montagskonzert und hebt am 30.6. Uraufführungen von Studierenden der Musikhochschule aus der Taufe. Dort kann man außerdem am 25.6. dem Echo aus Montepulciano lauschen.

Das musikwissenschaftliche Institut der Uni Köln stellt am 3.6. Megan Leber in einem Live-Konzert vor, im 'Musik der Zeit'-Konzert des WDR erklingt am 4.6. Musik von Feldman, Saunders und Xenakis, in der Reihe 'soundings' der Kunsthochschule für Medien ist am 9.6. das Kölner Damenquartett 120 DEN zu Gast, das Asasello Quartett kommt am 10.6. in den Sancta Clara Keller, die reiheM lädt am 14.6. Viola Klein in den Filmclub 813 ein, die Kölner Vokalsolisten bringen am 26.6. die Elemente Erde und Luft in die Trinitatiskirche und am 29.6. findet die nächst Soirée sonique statt.
Fast tägliche Events sind im
Loft zu erleben (z.B. die sprechbohrer am 12.6.) und ON – Neue Musik Köln veranstaltet am 13., 22. und 29.6. Workshops zu wechselnden Themen. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm und Musik in Köln sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

Ruhrgebiet

In der Bochumer Melanchthonkirche erklingen am 6.6. Metamorphosen für Oboe und Orgel und die Soundtrips NRW mit Isidora Edwards und Nina de Heney sind am 10.6. im Kunstmuseum zu Gast.

Im Rahmen des Dortmunder Festivals Beyond Opera sind die Performance Her Noise am 1.6. und die Nordstadtoper am 4.6. zu erleben. Im Konzerthaus kommen am 15.6. Werke von Cage, Xenakis, Oriol Cruixent und Maki Ishii zu Gehör und die Kopfnoten befassen sich am 20.6. mit Deutungshoheiten der Moderne. Im domicil steht am 16.6. The Dorf auf der Bühne.

Im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr spielt Hanni Liang am 15.6. in Essen Musik von York Höller. In der Philharmonie kommt am 23. und 24.6. Philipp Glass' Saxofonkonzert zur Aufführung und vom 13.6. bis 17.6. kann man wieder den Park Sounds lauschen, die die Philharmonie gemeinsam mit dem ICEM der Folkwang Universität veranstaltet. In der Folkwang Universität findet außerdem das Abschlusskonzert Integrative Komposition am 22.6. und die Masterprüfung Neue Musik am 28.6. statt. Die Musikbibliothek erinnert am 30.6. in einem Konzert mit dem E-Mex Ensemble an Mauricio Rosenmann Taub. Der Komponist und Schriftsteller, der im letzten Jahr in Essen verstarb, war viele Jahre Professor an der Folkwang Hochschule.

In Mülheim an der Ruhr wird im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr am 13.6. York Höllers Doppelkonzert für Violoncello und Klavier aus der Taufe gehoben.

Dominik Susteck bringt sein Orgelwerk Zeichen am 3.6. in Bochum und Duisburg und am 12.6. in Köln zur Aufführung.

Düsseldorf

In der Robert Schumann Hochschule präsentiert am 15. und 16.6. die Klasse von Oliver Schneller neue Musik. Im Rahmen des Schumannfestes in der Tonhalle erklingt auch Zeitgenössisches: Am 15.6. trifft Musik auf Tanz, bildende Kunst, Video, Design und Schauspiel, vom 17. bis 19.6. ist in der Sammlung Philara die interaktive Konzertinstallation NUQTA – The Beginning zu erleben, Isabelle Faust spielt am 18.6. ein Solo-Programm, zu dem die Französin Charlotte Guibé live auf der Bühne malt, und am 19.6. erwartet uns The Scriabin Code. Die Klangräume kündigen Folklora Mediterran am 18.6. und Bach Revisited am 25.6. an.

Sonstwo

In der Reihe Soundtrips NRW treffen Isidora Edwards und Nina de Heney vom 8. bis 17.6. in Köln, Hagen, Bochum, Münster, Duisburg, Düsseldorf, Bonn, Wuppertal und Dortmund auf wechselnde Gäste.

Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik befasst sich in der Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' am 3.6. mit Claus Kühnl und stellt am 10.6. das Reinhard Glöder Trio vor.

Die Bielefelder Cooperativa Neue Musik kündigt einen Jour fixe am 8.6. und das Cooperativa Ensemble am 14.6. an und in der Zionskirche erwartet uns ein Orgelkonzert am 6.6. und Der rote Ahorn, ein Musik-Sprechtheaterstück von Johannes Fritsch, am 19.6.

Im Bonner Dialograum Kreuzung an Sankt Helena präsentiert die In Situ Art Society im Rahmen des Projekts Bridge am 3. und 4.6. Konzerte mit dem legendären Saxophonisten Roscoe Mitchell, am 13.6. ist das Asasello Quartett, am 15.6. die Soundtrips NRW und am 17.6. Martin Blume mit Hans Peter Hiby, George Paul & Onno Govaert zu Gast. Michael Denhoff spielt am 19.6. in der Gesellschaft für Kunst und Gestaltung auf den Spaltholz-Klangobjekten von Klaus Wangen und in der Kunsthalle Hangelar im nahen Sankt Augustin stehen am 26.6. drei Kontrabässe auf der Bühne.

Die Musikhochschule Detmold kündigt ein Schlagzeugkonzert zum 100. Geburtstag von Iannis Xenakis am 1.6. und die Werkstatt für Wellenfeldsynthese am 29.6. an.

In Hagen werden die Musikfabrik am 14.6. und das Essener Noise Dub Ensemble am 30.6. erwartet.

Vom 3. bis 6.6. findet in Moers das Pfingstfestival statt.

Der ehemalige Leiter des Moerser Festivals, Reiner Michalke, ist derweil zu neuen Ufern aufgebrochen und hat in Monheim eine Triennale initiiert, die erstmalig vom 22. bis 26.6. über die Bühne geht. Eingeladen sind u.a. Markus Schmickler und Jennifer Walshe.

In der Black Box in Münster stehen die Soundtrips NRW am 12.6. und Les Marquises am 19.6. auf dem Programm.

Das Studio für Neue Musik der Universität Siegen kündigt Uraufführungen von Martin Herchenröder und Michael Ostrzyga am 2.6. und skandinavische Orgelmusik des 20. und 21. Jahrhunderts am 23.6. an.

Im Wuppertaler ort erwarten uns ein Konzert in der Reihe 'Neue Musik' mit Othello Liesmann am 4.6., das Schultze Ehwald Rainey Trio am 10.6., die Soundtrips NRW am 16.6., das Ensemble Ay featuring Nina de Heney in der Reihe 'all female' am 19.6. und das Phil Minton Quartet am 24.6.

Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW

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