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Langsam kehrt das kulturelle Leben zurück und so hat es im Juni – noch schnell vor der Sommerpause – erste Live-Konzerte gegeben. In der Düsseldorfer Tonhalle durfte das Notabu-Ensemble den großen Saal bespielen, in dem sich die etwas mehr als 100 Zuhörer großzügig verteilten. Der große Kuppelraum mit seiner Sternenhimmelbeleuchtung erwies sich als idealer Ort; er bietet viel Platz für Mensch und Musik, ohne dass man sich allzu verloren vorkommt. Als Nachhall der Coronaeinsamkeit standen zunächst drei Solowerke auf dem Programm. Zum Auftakt entfachte Salome Amend mit Alexej Gerassimez' Asventuras nur mit einer Snare Drum bewaffnet ein rhythmisches Feuerwerk und schickte wahre Gewehrsalven durch den Raum. Mit Brittens Drei Stücke aus „Metamorphosen nach Ovid“ für Oboe solo und Messiaens Appel interstellaire aus „Des Canyons aux ètoiles“ für Horn solo folgten zwei Klassiker, bevor sich mit Ligetis Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten die Bühne füllte und das Publikum in Klängen baden konnte.
Die Musikfabrik spielte ihr erstes Konzert nach dreimonatiger Pause in Essen im PACT Zollverein und präsentierte eine unter die Haut gehende Wiederbegegnung mit alten Bekannten. Mikel Urquizas Alfabet für Sopran, Trompete, Klarinette und Schlagzeug wurde 2019 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik aus der Taufe gehoben und ist auch auf der dazugehörigen CD des WDR vertreten. Ohne Corona-Lockdown wäre die Musikfabrik damit im Pariser Centre Pompidou zu Gast gewesen, jetzt erklang das Werk in Essen vor handverlesenem Publikum, da aufgrund der reduzierten Platzzahl nicht allen Interessenten Einlass gewährt werden konnte. Das Stück basiert auf der gleichnamigen Gedichtsammlung von Inger Christensen und lässt die Sopranistin in einen ausgefeilten Dialog mit den Instrumenten treten, wobei sie mit einem umfassenden Lautrepertoire, voller Zirzen und Zirpen, Hauchen und Heulen, eine von Satz zu Satz zunehmende Textmenge zu bewältigen hat und dabei in einen wahren Strudel gerät. Steffen Krebbers Amphiference erlebte seine Uraufführung bei dem kleinen Festival Kontakte, das die Musikfabrik Ende Januar/Anfang Februar 2020 in ihrem Domizil im Mediapark veranstaltete. Dabei stehen sich ein Drumset und ein Minimoog, ein analoger, einstimmiger Synthesizer, gegenüber, die sich gegenseitig elektronisch filtern, „gleichzeitig klingend und resonierend“. Aus einer diffusen Rausch- und Geräuschkulisse, von der man zunächst nicht weiß, wo sie hin will, entstehen sich verdichtende, rockig aufgeladene, hochenergetische Klangwelten, die Musiker und Publikum wahrhaft abheben lassen. Beide Stücke machten deutlich, wie sehr Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen von Austausch und Kontakt leben und so durfte auch Stockhausens gleichnamiges Werk Kontakte für Klavier, Schlagzeug und Tonband nicht fehlen, das ebenfalls Anfang des Jahres bei oben genanntem Festival erklang. Unter der kundigen Klangregie der Stockhausenvertrauten Kathinka Pasveer waberten und rasten zu Dirk Rothbrusts und Benjamin Koblers virtuosen Schlagzeug- und Klavieraktionen Elektroniksalven und -schwaden durch den Raum.
Das
kleine Sommerfestival Klangräume
Düsseldorf,
das in diesem Jahr bereits zum 7. Mal vom Klangraum
61
veranstaltet wird, hat sicherheitshalber seine Termine
in den Herbst
und sogar bis ins Jahr 2021 verschoben. Als Auftakt
sollte am 27.6.
ein Online-Konzert stattfinden, aber dann hatte die
Heilige Corona –
laut Wikipedia
Patronin des Geldes(!), der Fleischer(!!) und
Schatzgräber – ein
Einsehen und im Palais Wittgenstein waren nicht nur
Kameras sondern
auch leibhaftige Zuhörer zugegen. Das Porträtkonzert
mit Oliver
Schneller,
der als Nachfolger von Manfred Trojahn die Professur
für Komposition
an der Robert Schumann-Hochschule übernommen hat, fiel
zwar
coronabedingten Logistikproblemen zum Opfer, aber
dafür erklang der
erste
Teil
einer dreiteiligen Hölderlinreihe. Hölderlin wäre,
wenn er in
seinem Turm noch ein bisschen durchgehalten hätte, in
diesem Jahr
250 Jahre alt geworden. Im Rahmen der öffentlichen
Jubiläumsanstrengungen steht er zwar im Schatten
seines
Altersgenossen Beethoven (dem sich die Klangräume am
12.9. widmen
werden), aber für Komponisten und Komponistinnen der
neuen Musik war
Hölderlin stets eine zentrale Figur; so zum Beispiel
für Wolfgang
Rihm, dessen Hölderlin-Fragmente
Martin
Wistinghausen
(begleitet von Theodor Pauß) angemessen expressiv und
explosiv
interpretierte. Im Vergleich dazu gestaltet Martin
Tchiba in seinem
aus der Taufe gehobenen Werk Hälfte
des Lebens
die Gesangslinie schlichter bis hin zum Sprechgesang,
lässt es eher
subkutan und im Klavierpart brodeln. Miro
Dobrowolny
arbeitet derzeit an einem mehrteiligen
Hölderlinzyklus, in dem er
sich (wie bereits Heinz Holliger) mit den unter dem
Pseudonym
Scardanelli entstandenen späten Gedichten befasst.
Zusammengehalten
von einem schlichten Reimschema entstehen kryptische
Bilder, von
denen man nie weiß, ob sie besonders tiefsinnig sind
oder den
psychischen Verfall des Autors spiegeln („oft scheint
die Innerheit
der Welt umwölkt, verschlossen“). Diese
Doppelbödigkeit bringt
Aussicht
1
mit einem intensiven Dialog zwischen der Sopranistin Irene
Kurka
und dem Akkordeonisten Marko
Kassl
zum Ausdruck, sie wird in Aussicht
2
durch das Hinzukommen von Bass (Wistinghausen) und
Cello (Othello
Liesmann) weiter aufgefächert und findet mit einem
Cello-Akkordeon-Duo den Abschluss. Kurkas klare,
unprätentiöse
Stimme hält das bei Hölderlin stets drohende Pathos
auf wunderbare
Weise im Zaum, was sich auch in Younghi Pagh-Paans
Moira
für Sopran und Akkordeon bewährt.
Den
zweiten
Teil
des Abends bestritt der Pianist und Komponist Martin
Tchiba
mit einem Best-of aus seinen Netzwerkprojekten Wireless,
Netzwellen
und Fringeplay.
Diese
zeichnen sich durch einen exzessiven und
fantasievollen Einsatz der
sozialen Medien aus, Komponisten können via Facebook
oder Twitter
eigene Stücke einreichen, die teilweise auf eine von
Tchiba
vorgegebene Klavierminiatur oder direkt aufeinander
reagieren, das
Publikum kann unmittelbar Einfluss nehmen und so
weiter und so fort.
Als Klavierrezital im Konzertsaal merkt man von
alldem allerdings
erstaunlich wenig, sondern wundert sich über die
eher konventionelle
Klangsprache. Für einen facebookskeptischen
Ohrenmenschen wie mich
ist das nicht das Schlechteste.
Die Bielefelder cooperativa neue musik fragt in ihrem Jour fixe am 6.7.: Wie klingt der Lock-Down?
Als besonderes Sommerhighlight finden vom 14. bis 19.7. und vom 28.7. bis 2.8. in Düsseldorf zwei Wandelweiserklangraumwochen statt ergänzt durch ein von André Möller kuratiertes Programm vom 21. bis 26.7. Neben vielen anderen erwarten uns neue Projekte von Christoph Korn und Irene Kurka sowie Antoine Beuger und Joep Dorren.
Eigentlich sollte 2020 die erste Ausgabe der Monheim Triennale an den Start gehen. Diese wird zwar auf Juli 2021 verschoben, doch am 1.7.20 gibt einen kleinen Vorboten: Marcus Schmickler realisiert unter dem Motto Could You Patent the Sun? eine Klanginszenierung am Rhein und bekommt dabei Unterstützung von den Blechbläsern des Ensemble Musikfabrik.
Weiterhin gilt: Es ist einiges in Bewegung und gut möglich, dass kurzfristig weitere Veranstaltungen hinzukommen. Daher Augen und Ohren auf und im Ernstfall rechtzeitig anmelden, die Besucherkapazitäten sind oft begrenzt.
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