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Oktober 2019

Gewesen: Ruhrtriennale

Angekündigt: NOW!-Festival in Essen – 10. Hörfest in Ostwestfalen-Lippe – Umlandfestival in Dortmund, Wuppertal und Duisburg

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[Ruhrtriennale]

Viel zeitgenössische Musik gab es diesmal bei der Ruhrtriennale zu entdecken, vor allem aber jene Kreationen, die die üblichen Spartengrenzen überschreiten und ihren besonderen Reiz ausmachen. Zum Auftakt widmete sich Christoph Marthaler in Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend der Musik von Komponisten, die Opfer der Nationalsozialisten geworden sind, sei es, dass sie direkt in den Konzentrationslagern ermordet oder durch Flucht und Vertreibung so in ihrem Lebenslauf beeinträchtigt wurden, dass sie lange in Vergessenheit gerieten. Gemeinsam mit Stefanie Carp, zuständig für Textauswahl und Dramaturgie, und Uli Fussenegger, zuständig für Musikauswahl und musikalische Leitung, hatte Marthaler sich bereits im Rahmen der Wiener Festwochen 2013 mit dem Thema befasst und unter dem Titel Letzte Tage. Ein Vorabend im historischen Sitzungssaal des Wiener Parlaments demonstriert, „wie Demokratie misslingen kann.“ Das Audimax der Bochumer Ruhruniversität bietet da ein ganz anderes Ambiente. Das Auditorium, das jeweils zur Hälfte dem Publikum und den Darstellern zur Verfügung stand, symbolisiert Offenheit, Transparenz und Begegnung auf Augenhöhe, die angestaubte und ergraute Betonarchitektur Tristesse und Endzeitstimmung. Marthaler spielt mit den Zeitebenen und versetzt uns in eine imaginäre Zukunft, in der die 'ehemalige europäische Zone' zum nicht mehr ernstzunehmenden Luxus- und Unterhaltungsressort mutiert ist. Ihre besonderen Markenzeichen, repräsentative Demokratie und Rassismus, wurden inzwischen zum Weltkulturerbe erklärt, während die Gedenkveranstaltung zu 200 Jahren Holocaust längst zur inhaltsleeren Routine verkommen ist. Doch die Vergangenheit ist mehr als präsent und wird uns anhand rechtsradikaler Reden aus alter und neuer Zeit vor die Füße geknallt. Der antisemitische Wiener Bürgermeister Karl Lueger kommt ausführlich zu Wort aber auch Orban, Gauland, Weigel und Konsorten. Das klingt recht plakativ und könnte leicht zum demonstrativen Lehrstück geraten, wären da nicht Marthaler und die Musik. Er lässt seine elf Darsteller verloren im weiten Rund agieren, sie ergehen sich in angestaubten Gesten und Ritualen, werden selbst abgestaubt, raufen sich die Haare oder verstricken sich in skurrilen Verrenkungen, die Texte werden mal mit obszöner Sanftheit mehr geflüstert als gesprochen, kommen als überdrehte an Jelinek gemahnende Collage daher oder schlagen um in exaltiertes Jodeln. Daraus entsteht eine Atmosphäre, die zwischen Melancholie und beißender Schärfe balanciert, gleichzeitig einlullt und weh tut und einen Zustand des paralysierten Schreckens erzeugt, der unserer gegenwärtigen Verfasstheit, in einer Zeit, in der die braunen Schatten wieder länger werden, nicht unähnlich ist. Die Musik der verfemten Komponisten, Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann, Józef Koffler, Alexandre Tansman u.a., wirkt in ihrem Beschwören der Schönheit angesichts des Grauens, der Tradition, der sie sich zugehörig fühlten und die sie nicht zu retten vermochte, tröstlich und traurig zugleich. Ihr haftet trotz des Ahnens oder Wissens noch eine Unschuld an, die nach 1945 nicht mehr möglich ist, was auf eindrucksvolle Weise durch Luigi Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz zum Ausdruck kommt, eine zu Peter Weiss' Theaterstück Die Ermittlung entstandene filigrane Tonbandmusik, die für gut zehn Minuten die Zeit stillstehen lässt. Die Musik hat schließlich das letzte Wort, beherrscht das letzte Drittel der Aufführung und verflüchtigt sich mit einem geisterhaften 'Wer bis an das Ende beharrt' aus Mendelssohn-Bartholdys Elias, das gar nicht aufhören will und schließlich an der Grenze des Hörbaren von irgendwo hereinweht. Was will uns dieser Schlusschoral sagen? Ein zynischer Kommentar zu all jenen, die hoffen, dass es nicht so schlimm kommt? Einst haben sich die Beharrenden durch die Schornsteine der Krematorien verflüchtigt. Es entsteht ein diffuses Unbehagen und Widerstreben, in dem auch die Zumutungen, gegen die ich mich anfangs gewehrt habe, die Konfrontation mit dem Holzhammer, selbst Leerlauf und Längen Sinn ergeben.

Auch David Marton spielt in seiner Fassung von Purcells Dido and Aeneas, die in der Duisburger Kraftzentrale als Dido and Aeneas, remembered firmiert, mit den Zeiten. Das Werk hatte bereits im April in Lyon Premiere und kommt bei der Ruhrtriennale mit Orchester und Chor der Opéra de Lyon unter der Leitung von Pierre Bleuse zur Aufführung. In einer fernen Zukunft ist unsere Gegenwart selbst zum archäologischen Objekt geworden, doch die Ausgräber, die unseren Elektroschrott aus dem Sand pinseln, sind in antike Gewänder gehüllt und entpuppen sich als die Gottheiten Jupiter und Juno, die im Hintergrund der Geschichte die Fäden ziehen oder es zumindest versuchen. Diese Mehrschichtigkeit und Vieldeutigkeit überträgt Marton auf geschickte Weise sowohl auf das Bühnenbild als auch auf die Musik. Der in einem stilisierten Haus angesiedelten Hauptbühne (Bühne: Christian Friedländer) gesellen sich Nebenschauplätze hinzu, die nur teilweise einsehbar sind und sich ausschnitthaft über auf die Rückwand projizierte Videoaufnahmen erschließen. Der Zuschauer wird dadurch selbst zum Archäologen, der lediglich Bruchstücke zu fassen bekommt und sich daraus sein eigenes Mosaik zusammensetzen muss. Das gleiche gilt für die Musik: Purcells Original wird durch zeitgenössisches Material ergänzt bzw. überschrieben, für das der finnische Gitarrist Kalle Kalima und die schweizerische Stimmkünstlerin Erika Stucky verantwortlich zeichnen. Die Rechnung geht erstaunlich gut auf, gleich den Beginn markieren schrille Gitarrenklänge, die von den Streichern in sanftere Gefilde gelockt werden, bis sich schließlich die vertrauten Barocklinien Bahn brechen. Stucky ist Venus, Aeneas Mutter, die auf seine Abreise aus Karthago drängt, damit er seiner Bestimmung entsprechend Rom gründen kann, aber mit der Liebesgöttin hat sie wenig gemein. Wenn sie laut brabbelnd die Bühne betritt und dabei einen Spaten (wie einen Hexenbesen) geräuschvoll über den Boden schleifen lässt, wirkt sie wie ein Basler Fasnachtswesen, als wolle sie Geister austreiben oder sei selber einer. Ihre Gegenspielerin Juno (Marie Goyette) präsentiert sich dagegen als leibhaftige Schreckschraube und Dido ( Alix Le Saux) erscheint als selbstbewusste Königen, die auf Aeneas Treuebruch und Verrat mit Wut statt mit Trauer und Verzweiflung reagiert. Immerhin wissen die Frauen was sie wollen, während sowohl Jupiter (Thorbjörn Björnsson) als auch Aeneas (Guillaume Andrieux) zwischen den Fronten lavieren und sich aus der Verantwortung winden. Schuld sind wahlweise das Schicksal oder die Götter, jedenfalls immer die anderen. In die Szenenfolgen mischt sich viel Zeitgenössisches, eine Szene spielt in einem billigen Secondhandladen. Nicht alles wirkt inhaltlich stringent, aber das braucht es auch nicht in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist und in der auch die Götter – menschlich, allzu menschlich – längst die Kontrolle verloren haben. Zum Schluss versuchen sie alles wieder einzubuddeln, als könne man die Vergangenheit ungeschehen machen. Der Abend erweist sich als raffiniertes Vexierspiel, in dem immer wieder neue Fährten gelegt werden; doch manchmal sind fast zu viele Bälle in der Luft und der ständige Versuch, die Fäden zusammenzuspinnen, wird zum Selbstzweck, lenkt ab von den Personen, vom Geschehen und von der Musik.

Martons Landsmann, der Ungar Kornél Mundruczó, der mich im letzten Jahr mit seiner Interpretation von Henzes Das Floß der Medusa nicht ganz überzeugte (s. Gazette Oktober 2018), widmete sich in diesem Jahr unter dem Titel Evolution dem Requiem von György Ligeti. Auch bei ihm scheint die Musik manchmal in den Hintergrund zu geraten, dafür gelingen ihm Bilder von starker Ausdruckskraft, die unter die Haut gehen. In drei Kapiteln und mit sehr unterschiedlichen theatralischen Mitteln nimmt er uns mit auf eine Zeitreise, die vom Holocaust über die Gegenwart in die nahe Zukunft führt. Der erste Blick fällt auf einen bunkerartigen Raum, den wir anhand der Duschköpfe instinktiv sofort als Gaskammer identifizieren. Effektvoll wabernde Lichtschwaden dringen ein, als sich eine Tür öffnet, um drei mit Eimer und Schrubber bewaffnete Arbeiter einzulassen. Doch statt die Spuren des Schreckens wegzuwaschen, fördern sie sie zu Tage. Aus allen Ritzen dringt Menschenhaar, das nicht zu bändigen ist, sie zu ersticken droht, allen Reinigungsexorzismen mit Kalk und Desinfektionsmitteln stand hält. Die anfangs realistische Situation kippt ins Surreale, im wahrsten Sinne Abgründe tun sich auf, bis die Arbeiter ihren Widerstand aufgeben, sich die Kleider vom Leib reißen und sich aus dem Nichts hervorschießenden Wasserstrahlen hingeben. Schließlich bergen sie aus dem Horror ein schreiendes Kind – Bote einer Zukunft, in der neue Hoffnung keimen kann? Zu all dem erklingt Ligetis eindringliche Musik, die es zusätzlich unmöglich macht, sich den Bildern zu entziehen – ein aufgewühlter Chor, angstvoll aufschreiend, drohende Bläserakkorde, so dass auch ohne Blick ins Textbuch die Verse des Dies irae sich einschreiben. Das zweite Bild versetzt uns abrupt in die Gegenwart, aus dem Säugling ist eine alternde Frau geworden, die verzweifelt versucht, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten und sich gleichzeitig fast trotzig wehrt gegen die Gespenster der Vergangenheit und die Zumutungen der Gegenwart. In einer armseligen Einzimmerwohnung empfängt sie den Besuch ihrer Tochter, die sich und ihrem Sohn ein neues Leben ermöglichen will und dazu ganz pragmatisch die ihrer Mutter in Aussicht gestellten Wiedergutmachungszahlungen einsetzen will. Doch diese will sich nicht für Alibiveranstaltungen missbrauchen lassen, will endlich selbst wahrgenommen werden und so entspinnt sich ein eindringlicher Dialog zwischen Mutter und Tochter, in dem endlich all das Unaussprechliche zur Sprache kommt und deutlich wird, wie das Trauma von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Musik tritt dabei in den Hintergrund, ist teilweise nur als Einspielung präsent, diesmal sind es die Bilder, die als Live-Schaltung auf Großleinwand projiziert, uns ganz nah heranholen an Lili Monori und Annamária Láng, die beiden großartigen Schauspielerinnen aus Mundruczós Proton Theater. Erneut kippt die schmerzhaft realistische Szenerie ins Unwirkliche: Als die Mutter den Raum verlässt, dringen plötzlich Wassermassen herein, ein nicht enden wollendes Strömen und Rauschen, das alles, auch die Musik, hinweg spült, bedrohlich und befreiend zugleich. Nach anfänglichem Widerstreben fügt sich die Tochter dem Unausweichlichen, nimmt es an. Die Vergangenheit lässt sich nicht verdrängen, sie ist wie eine Naturgewalt, der man sich nicht entziehen kann. Das dritte Bild versetzt uns in die Welt des Sohnes Jonas. Während er einsam mit seinem Smartphone am Bühnenrand steht, rasselt hinter ihm ein Chatverlauf über die Leinwand, aus jeder Zeile dringen Mobbing, Ausgrenzung, antisemitische Anspielungen, jeder kann jederzeit zum Opfer werden, keiner ist sicher. Ist das unsere Gegenwart bzw. Zukunft? Plötzlich reißt die Bühne auf und lenkt unseren Blick in die enorme Tiefe der Bochumer Jahrhunderthalle. Durch eine raffinierte Lichtchoreographie entsteht ein unwirklicher gelbgrellgiftiger perspektivisch zugespitzter Raum, wie ein Tunnel in eine andere Welt, aus dessen Unendlichkeit uns langsam der Chor entgegenkommt und auch die eben noch von ihren Smartphones hypnotisierten Kinder werden von diesem magischen Licht angezogen. Mundruczós Bilder sind mal hyperrealistisch, mal völlig surreal, mal von brutaler Direktheit und Eindeutigkeit, mal vielschichtig und ungreifbar. Während Marton uns mitspielen lässt, uns die Illusion lässt – wie die antiken Götter – ein paar Fäden in der Hand zu halten, wirft Mundruczó uns auf uns selbst zurück und schreckt auch vor Zumutungen und Überwältigung nicht zurück. Zum Schluss hätte ich gerne noch einmal Ligetis Requiem pur gehört, mit dem Staatschor Latvija und Steven Sloane und seinen Bochumer Symphonikern im Zentrum.

In eine ganz andere Welt versetzt uns Gordon Kampe. Auch er liebt das Spiel mit den Zeiten und bekennt sich offen zu seiner „Freude am Verwitterten“, doch diese ist bei ihm stets gewürzt mit einer ordentlichen Prise Humor. Für die Ruhrtriennale hat er sich mit dem Phänomen der Operette befasst und versucht, unter dem Motto Gefährliche Operette. Eine Wiederbelebung ihre unangepassten und subversiven Seiten in den Blick zu nehmen. Als Vorläufer nennt er dabei vor allem Jacques Offenbach, der anlässlich seines 200. Geburtstags zurzeit allerorts gefeiert wird; aber auch Kurt Weill, Tucholsky, der Struwwelpeter und Blutrünstiges von Guillaume Apollinaire haben es ihm angetan und mit Schorsch Kamerun und dem kürzlich verstorbenen Wiglaf Droste sowie Anspielungen auf derzeitige Politikdarsteller umfasst das Textkonglomerat auch aktuelle Bezüge. Daraus entsteht eine bunte Nummernrevue, die vor allem von der fantastischen Präsenz und Spielfreude des Countertenors Daniel Gloger lebt. Er inszeniert und choreographiert sich praktisch selbst, wobei ein opulenter Kostümfundus zum Einsatz kommt. Mal erscheint er im engen Glitzertop mit gewagtem Bauchansatz, mal als rotbestrumpfte Chanteuse oder im eleganten Frack. Das Entscheidende ist dabei die ständige Gratwanderung zwischen Witz und Bösartigkeit, Schrägem und Ernsthaftem, denn sich über Trump lustig zu machen, reicht nicht, sondern führt nur zu eitler Selbstvergewisserung, die sich im Nichtstun selbst beruhigt. Der schnelle Wechsel der Stimmungen – Kameruns schnoddrige Polittexte neben Flachwitz und traurigem Bajazzo – verhindert, dass man es sich zu bequem macht, doch die entscheidende Rolle spielt die mit Biss und Präzision vom Stuttgarter Ascolta Ensemble vorgetragene Musik. Zwar schwingt die leichte Muse oft mit – mehr als Stilallusion denn als direktes Zitat – aber Vogelzwischern und Belcanto werden wohltuend eingeholt von knarzigen Streichern und aggressiven Bläserattacken. Das Schicksal von Robert aus dem Struwwelpeter, den der Wind davonträgt, wird in Endlosschleife und immer aggressiverem Impetus wiederholt, bis das anfangs fast poetische Bild sich in seinem ganzen Sadismus enthüllt und der Sänger von den wüst aufspielenden Instrumenten wie Robert von den Wolken verschluckt zu werden droht. Doch er weiß sich zu helfen und greift zum Megaphon! Die musikalischen Zügel liegen in der Hand von Catherine Larsen-Maguire, die sich auch in die Inszenierung einbinden lässt, indem sie Alkohol an die Musiker und Pralinen ans Publikum verteilt. Das wirkt manchmal etwas betulich, weniger Drumrum hätte es auch getan, denn die klarste Sprache spricht die Musik.

Musik pur präsentierte an zwei Abenden das Klangforum Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling. Zum Auftakt erklangen zwei ausgedehnte Werke (70 bzw. 75 min.), die nicht unterschiedlicher hätten sein können: Georg Friedrich Haas' in vain und Iannis Xenakis' Kraanerg. Mit Haas tauchen wir ein in ein brodelndes Klangmeer, das sich anfangs scheinbar unendlich abwärts zu schrauben scheint. Mikrotonal eingefärbte flirrende Streicher- und markante Bläserstimmen, kurzzeitig forciert, beschleunigt, doch noch zögernd, innehaltend, steigern sich zu einem tumultuarischen, entfesselten Höhepunkt, um nach diesem vergeblichen (in vain) sich Aufbäumen zurückzusinken und abrupt abzubrechen. Im Essener Salzlager der Kokerei Zollverein (mit Kabakovs spiralförmigem Palace of Projects im Rücken) kam zudem die von Haas vorgesehene Lichtregie zum Einsatz, die neben Dunkelphasen schrille, irritierende Lichtblitze vorsieht, wodurch die suggestive, sowohl körperlich als auch emotional fordernde Wirkung noch verstärkt wird. Haas will den Effekt, will, dass wir uns aussetzen und angehen lassen, und wer dazu bereit ist, macht eine intensive Erfahrung, die über reinen Hörgenuss hinausgeht. Bei Xenakis ist ebenfalls viel Energie im Spiel, doch seine Herangehensweise ist kontrollierter und rationaler. Kraanerg für Orchester und 4-Spur-Tonband entstand ursprünglich für ein Ballett von Roland Petit in einem Bühnenbild von Victor Vasarely. Das Tonband, das auf bearbeiteten und verfremdeten Instrumentalklängen basiert, wurde inzwischen digitalisiert und geschnitten, so dass es flexibel zuspielbar ist und die Musiker nicht mehr einem starren Zeitkorsett unterliegen. In Essen wurden zudem die Instrumente verstärkt, um eine ausgewogene Klangbalance zwischen Live- und Tonbandmusik zu erzielen. Die technischen Voraussetzungen waren also gut, um das selten gespielte Werk, das zudem Xenakis längstes ist, zur Wirkung kommen zu lassen. Gleich zum Auftakt werden wir mit kantigen Bläserattacken konfrontiert, die im Tonband nachbeben und uns durch den Raum wandernd von allen Seiten bedrängen. Auch im weiteren Verlauf kommt die Musik nicht zur Ruhe, turbulent, scharf, schrill, auch in den wenigen zurückgenommenen Passagen nervös brodelnd führt sie zu einer Dauererregung, die jedoch nach einiger Zeit erschöpft. Auch die Tonbandklänge haben heute ihren experimentellen Charakter verloren und wirken redundant, so dass ich – obwohl Xenakis-Fan – mehrfach innerlich ausgestiegen bin. Vielleicht lag es aber auch an Ermüdungserscheinungen meinerseits nach fast drei Stunden konzentriertem Hören.

Als wolle man das Publikum nach diesem Kraftakt schonen, präsentierte das Klangforum am zweiten Konzerttag Rosen aus dem Süden. Gleich zum Auftakt erklangen mit Johann Strauß' Lagunenwalzer sehr ungewohnte Töne, aber ein echter Wiener schreckt auch davor nicht zurück und immerhin hat Arnold Schönberg höchst persönlich das Ganze für seinen 'Verein für musikalische Privataufführungen' arrangiert. Im weiteren Verlauf wurde es dann natürlich doch sehr zeitgenössisch, wobei mit Pierluigi Billone, Clara Ianotta, Salvatore Sciarrino und Martino Traversa die Reise nach Italien führte. Während Ianotta in D'après mit hauchzartem Streicherflirren und angestrichenen Gläsern den Ausschwingvorgängen der Glocken des Freiburger Münsters nachlauscht, widmet sich Sciarrino in Archeologia di telefono auf humorvolle und doch subtile Weise den klanglichen Errungenschaften unseres mobilen Zeitalters. In Billones Ebe und anders überzeugten besonders der Trompeter Anders Nyqvist (einer der Namensgeber des Stücks) und der Posaunist Mikael Rudolfsson durch einen hochvirtuosen, ausgefeilten Dialog. Nyqvist brilliert auch in Traversas uraufgeführtem Werk The Lost Horizon. Um der Gestik der Gegenwartsmusik, „die heute schon zu verbraucht“ ist, zu entkommen, sucht er den musikalischen Diskurs mit der Vergangenheit „allen voran Claude Debussy“. Doch viel Neues fällt ihm dazu nicht ein, so dass das Ergebnis über eine Reanimierung konventioneller Klangsprache und Form nicht hinausreicht.

Das Chorwerk Ruhr unter seinem Leiter Florian Helgath hat sich mit Luciano Berios Coro ebenfalls einem Schwergewicht der Neuen Musik gewidmet, das man ob seines Aufwandes nicht alle Tage zu hören bekommt: 40 Vokalstimmen werden ebenso vielen Instrumentalisten in der räumlichen Aufstellung paarweise zugeordnet, ergänzt durch Klavier, elektronische Orgel und Schlagzeug, und auch inhaltlich begibt sich Berio auf gewichtiges Terrain. Im Zentrum steht ein Gedicht Pablo Nerudas, in dem er dezidiert zur politischen Gewalt in seiner Heimat Stellung nimmt und das in dem Vers „Kommt und seht das Blut auf den Straßen.“ gipfelt. In Coro wird der Text schrittweise aufgebaut und erklingt erst zum Schluss in voller Länge, so dass das Grauen immer mehr um sich greift. Auch musikalisch sind die Nerudapassagen äußerst markant, geprägt von massiven Akkorden, fahl und düster, ragen sie wie Stelen aus dem Klangmeer, anklagend und bedrohlich zugleich. Doch dabei wollte es Berio nicht bewenden lassen, denn dazwischen erklingen Texte peruanischen, persischen, afrikanischen, indianischen Ursprungs, die das Leben besingen, die Liebe, die Arbeit, den Körper und die Natur, aber auch den Tod nicht aussparen. Bei ihrer Vertonung hat sich Berio von Volksliedern inspirieren lassen, ohne jedoch in vordergründigem Folklorismus zu versanden. Stattdessen entfaltet er ein unerschöpfliches musikalisches Spektrum, das mal einzelne Stimmen und Instrumente heraushebt, mal den ganzen Raum mit einem quirligen, wuselnden, wispernden Plappern und Tönen erfüllt. Auch wenn Neruda das letzte Wort hat, so wird deutlich, dass das Leben sich nicht unterkriegen lässt und es sich lohnt dafür zu kämpfen – eine Botschaft, die nicht zuletzt dem fulminanten Einsatz des Chorwerk Ruhr und der Duisburger Philharmoniker zu verdanken ist. Als Kontrast kam die Parodiemesse Missa sopra Ecco si beato giorno von Alessandro Striggio dem Älteren, einem Hofkomponisten und Diplomaten der Medici, zur Aufführung. 1565/66 entstanden wurde sie erst 2005 entdeckt und besticht vor allem durch ihre ausgefeilte Polyphonie. In der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel waren die fünf Chöre á acht Stimmen räumlich so aufgestellt, dass die Hyperkomplexität der Stimmen durch Nah- und Fernwirkung eine weitere Ausdifferenzierung erfuhr, was im wahrsten Sinne des Wortes neues Hören ermöglichte.

[Termine im Oktober]

Köln

In der Philharmonie stehen Werke von Eun-Hwa Cho am 4.10., von Steven Stucky und George Benjamin am 10.10., von Sean Shepherd am 11. und 12.10., von Antón García-Abril am 13.10. und von Katarina Leyman am 26.10. auf dem Programm und am 25.10. erklingen im Rahmen der WDR-Reihe Musik der Zeit Werke von Bruno Maderna, Francesco Filidei und Gérard Grisey. In einem weiteren Musik der Zeit-Konzert am 5.10. im WDR-Funkhaus werden Stücke von Johannes Boris Borowski und Matthias Krüger aus der Taufe gehoben, die Karl Rahner Akademie bietet dazu eine Einführungsveranstaltung mit Besuch der Generalprobe an. In der Alten Feuerwache erwarten uns Partita Radicale gemeinsam mit dem Experimentalchor alte Stimmen am 2.10., Zett Emm_20_19, das 7. Jugendfestival für Zeitgenössische Musik und Tanz, am 5.10., #doublespace, ein Spiel mit der Wahrnehmung reeller und virtueller Raumdimensionen mit zwei Musikerinnen von Interstellar 227 am 11.10. und 12.10., currents, ein Festival für aktuelle Tiefenkultur mit Elektronik, Improvisation, Klanginstallationen und interaktiven Performances, am 12.10. und das Ensemble hand werk mit Kölner Geklingel am 23.10. Die Kunststation Sankt Peter kündigt neben Lunchkonzerten am 5., 12. und 19.10. und den Oktober-Improvisationen am 6.10. ein Konzert für Younghi Pagh-Paan am 23.10. und ein kgnm-Konzert in der neuen Reihe Traditions am 25.10. an. Am 26.10. wird außerdem eine Klanginstallation von Claudia Robles eröffnet und am 28.10. findet ein begleitendes Künstlergespräch statt. Die Musikfabrik lädt am 7.10. zum Montagskonzert und ist außerdem am 24.10. in der Trinitatiskirche mit Werken von Ann Cleare zu erleben.

In der Reihe Chamber Remix trifft am 6.10. im Kunsthaus Rhenania das Kelemen Quartett auf Jono Podmore und Roland Dill, am gleichen Ort ist am 20.10. ambient formula mit Raummusik zu erleben, die Kunsthochschule für Medien präsentiert zum Semesterauftakt am 10.10. soundings Xtra mit Projekten von Studierenden, am 11.10. kommt im Rahmen des 10. Kirchenmusikfestivals eine Messe in unterschiedlichen Sprachen und Rhythmen für Chor und Jazzquintett von Matthias Petzold zur Uraufführung, Irene Kurka ist am 13.10. mit einem Konzert für Stimme Solo und Tisch im KunstRaum Dorissa Lem zu Gast, in einem Kammerkonzert des Gürzenich Orchesters erklingen am 19.10. Streichquartette von George Crumb und Philipp Glass, im Atelier Dürrenfeld/Geitel spielt am 21.10. das Trio Day & Taxi und am 30.10. bittet Kommunikation9 wieder zum Blind Date. Das Asasello Quartett erkundet vom 28.10. bis 1.11. in vier Konzerten im MAKK den Orbit Schönberg und in der Hochschule für Musik und Tanz findet am 31.10. ein Neue Musik Abend statt.
Der
Stadtgarten kündigt u.a. das 10-jährige Jubiläum der reiheM am 2.10. und Markus Stockhausen mit Wild Life am 10.10. an und im Loft gibt es wie üblich fast täglich Programm u.a. die Pianistin Judith Wegmann am 1.10. Weitere Konzerte mit Jazz und improvisierter Musik finden sich bei Jazzstadt Köln, sonstige Termine wie üblich bei kgnm und ON – Neue Musik Köln informiert im Rahmen der Reihe ONpaper am 15.10. über Förderanträge und Finanzierungspläne.

Ruhrgebiet

Im Bochumer Schauspielhaus feiert Moritz Eggert Ein Fest für Mackie, nostalgisch, böse und nicht ohne Hoffnung. Premiere ist am 10.10.

Im Dortmunder Konzerthaus erklingt Michael Tippetts A child of our time am 5.10. und Fazil Says Night für Klavier zu vier Händen am 29.10. Im domicil wird am 11.10. das Multiphonics Festival und am 17.10. das Umland Festival mit The Dorf und Claus van Bebber gefeiert (weiter geht es am 18.10. in Wuppertal und am 19.10. in Duisburg) und im mex sind am 11.10. Bobby Barry, Kallabris, Anna Schimkat & Michael Barthel zu Gast. Im Orchesterzentrum NRW kommt am 17.10. Gestohlenes Leben, eine Kammeroper mit Musik von Helmut Bieler und Texten von Susanne Bieler, zur Aufführung.

Das E-Mex-Ensemble präsentiert am 3.10. im Essener Folkwang Museum Bilder aus dem Osten und die Musikfabrik setzt am 13.10. ihre Konzertreihe im PACT Zollverein fort. In der Folkwang Hochschule stehen eine Master-Prüfung Neue Musik am 9.10. und Tape-Sessions am 10.10. und 31.10. auf dem Programm. Außerdem ist die Folkwang Uni wie in den Vorjahren beim NOW!-Festival vertreten. Dieses präsentiert unter dem sehr allgemeinen Motto Transit vom 23.10. bis 3.11. Klassiker wie Schönbergs Gurrelieder, Stockhausens Kontra-Punkte und Spahlingers passage/paysage sowie neue Werke von Ferneyhough, Haußmann, Omelchuk und vielen anderen. Mit dabei sind hochkarätige Interpreten wie die Musikfabrik, das JACK Quartet, das Ensemble hand werk, das WDR und das SWR Sinfonieorchester und das Ensemble Modern.

Termine mit improvisierter Musik finden sich wie üblich bei JOE – Jazz Offensive Essen und die GNMR, Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, kündigt einen Workshop für Kinder und Jugendliche vom 23. bis 26.10. an.

Düsseldorf

Die Konzertreihe Raumklänge hat Arpad Dobriban und Miki Yui am 3.10. in den Hallraum am Worringer Platz geladen und in der Tonhalle stehen ein Konzert mit dem Notabu-Ensemble am 9.10. sowie Gyula Kanchelis A Little Danielade am 22.10. auf dem Programm.

Sonstwo

Am 31.10. startet Soundtrips NRW in Moers mit dem norwegischen Saxophonisten Torben Snekkestad in die nächste Runde. Weitere Termine gibt es im November.

Jazztermine aus ganz NRW finden sich bei NRWJazz.net.

Die Gesellschaft für zeitgenössische Musik Aachen befasst sich in der Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' am 11.10. mit Tyshawn Sorey und hat außerdem das Neue Musik Ensemble Aachen mit einem Konzert zum Progromnachtsgedenken am 3.10., Paul Lovens zum 70sten am 4.10. und das Duo Scholly Böhm am 12.10. zu Gast.

Der Jour fixe der Bielefelder cooperativa neue musik widmet sich am 7.10. Oona Kastner und in der Zionskirche erklingt am 13.10. Petr Ebens Faust.

Im Bonner Dialograum Kreuzung an Sankt Helena stehen der Wortklangraum am 2.10., die Raumklänge mit Paal Nilssen-Love am 11.10. und 'The dissonant series', eine Konzertreihe der
In Situ Art Society, am 24.10. auf dem Programm und als Gast der Plattform für Transkulturelle Neue Musik kommt am 4.10. das Trio Mainz/Dargent/Eraslan in die Zentrifuge.

Die Detmolder Hochschule für Musik kündigt die Werkstatt für Wellenfeldsynthese am 30.10. und ein Konzert zum 85. Geburtstag des Komponisten Walter Steffens am 31.10. an und vom 3. bis 6.10. findet das 10. Hörfest der Initiative Neue Musik in Ostwestfalen-Lippe statt. Der Eintritt zu den Veranstaltungen mit dem Ensemble Horizonte, dem Artwork Ensemble, dem Ensemble Sturm und den Bielefelder Philharmonikern ist frei.

Am 25.10. ist das E-Mex-Ensemble im Museum Goch zu Gast.

Im Krefelder TAM dreht sich weiterhin alles um Gerhard Rühm, der nächstes Jahr 90 wird. Im Oktober wird aus diesem Anlass ein Blumenstück aus der Taufe gehoben. Ein Requiem an Schuberts Grab, eine Klang- und Lebensraumbeschreibung in 15 Sätzen komponiert von Antonia Petz, kommt am 2.10. im Bunker Güdderath und am 5.10. in der Fabrik Heeder zur Aufführung.

Im Rahmen der Leverkusener Kunstnacht präsentiert die Reihe Raumklänge den Pianisten Philip Zoubek und die Harfenistin Antonia Ravens am 11.10. im Museum Morsbroich.

In der Musikhochschule Münster kommt am 26. und 27.10. Benjamin Pfordts Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, eine Mono-Oper frei nach Nikolai Gogol, zur Aufführung. Die Black Box kündigt Paul Lovens zum 70sten am 6.10., eine elektroFlux-Session mit Stan Pete alias Peter Schwieger am 24.10. und Day & Taxi am 27.10. an. Im Theater Münster hat am 15.10. Yolimba, eine Musikalische Posse in einem Akt und vier Lobgesängen von Tankred Dorst und Wilhelm Killmayer, Premiere; am 13.10. findet dazu eine Matinee statt und im 2. Sinfonieorchester erklingen Werke von Moondog und Heiner Goebbels.

Am 10.10. sind in der Raketenstation der Insel Hombroich bei Neuss Klangsondagen für Thomas Kling mit Matthias Muche und Nicola L. Hein zu erleben.

Das Studio für Neue Musik der Uni Siegen veranstaltet am 2.10. eine Performance aus Architektur, Licht und Musik im Erfahrungsfeld Schönundgut und am 11.10. ein Konzert im Rahmen der Tagung Bauhaus-Paradigmen.

Im Wuppertaler ort erwarten uns Fabiana Galante & Luis Conde am 1.10., Petit Standard am 12.10. und Mascha Cormann und das Trio Day & Taxi am 26.10. Im Konzert der Kantorei Barmen Gemarke am 6.10. erklingt Musik von John Rutter, Naji Hakim und Robert Prizeman und Irene Kurka berichtet am 9.10. im Musikforum über ihr Erfolgsmodel Podcast.

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW

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