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Mai 2020

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Gewesen: Wittener Tage für neue Kammermusik

Rasch war klar, dass die allgegenwärtigen coronabedingten Absagen im Kulturbereich auch die Wittener Tage für neue Kammermusik betreffen würden, aber so schnell wollten Harry Vogt und sein Team sich nicht geschlagen geben. Zwar blieb der Saalbau in Witten vom 24. bis 26.4. verwaist, aber dafür präsentierte der WDR im gleichen Zeitraum drei abendfüllende Radioprogramme. Mit einer gewissen Skepsis platzierte ich mich vor den heimischen Boxen und war dann doch von dem Gebotenen beeindruckt. Gemeinsam mit den beteiligten Komponisten und Musikern hat man versucht vom Wittener Programm zu retten, was zu retten ist, und dabei viele unkonventionelle und kreative Lösungen gefunden. Wo immer möglich wurden die Stücke von den Musikern an ihren Wohnorten aufgenommen, was am leichtesten zu realisieren war bei Solo- oder Zweierbesetzungen wie Benjamin Scheuers Acht Arten zu atmen für Klarinette und Akkordeon. Scheuer geht von Stimmimprovisationen aus, die er mit diversen Klangobjekten nachbildet und anschließend den Instrumentalisten Kilian Herold und Teodoro Anzelotti zur Imitation vorlegt. Daraus entsteht ein quirliges, quäkendes und schnatterndes Klanggespinst, in dem sich Instrumentalklänge, Stimmen und Zuspielungen auf vielfältige Weise mischen. Im Gegensatz dazu liegt Johannes Boris Borowskis Lied für Akkordeon Solo das Bild einer ruhigen Schneelandschaft zugrunde. Es beginnt in eisiger, flirrender Höhe, doch schon bald bebt und pulsiert es unter der Oberfläche, entsteht Klanggekräusel, das unter der Rinde reißend schwillt und uns immer tiefer hinabzieht. Carolin Widmanns Interpretation von Gloria Coates Violinsonate No 2 ging via Skype ein intensiver Austausch mit der Komponistin voraus, der eine erhebliche Veränderung des Werks zur Folge hatte. Wenn sich aus trockenem Pochen ein insistierender teilweise sirenenartiger Sog aufschraubt, glaubt man ein Echo unserer gegenwärtigen angespannten Lebenssituation zu erspüren.

Vor noch größeren Herausforderungen stand das WDR-Team bei Werken, die über das Solo oder Duo hinausgehen. Huihui Cheng entschied sich deshalb, ihr neues Stück Sonic leak am Computer zu simulieren, während das Jack Quartet, dessen Mitglieder seit Anfang März keinen persönlichen Kontakt mehr untereinander haben, Patricia Alessandrinis A Complete History of Time als Remote Version präsentierte. Die für acht Trompeten komponierten Stücke Unanime von Justé Janulytè und Felsen – unerklärlich von Elnaz Seyedi erweckt Marco Blauuw im Alleingang zum Leben, indem er alle Stimmen einzeln einspielt und anschließend zu dichten, orgelartigen, atmenden Klangkörpern verbindet. Der Komponist Robert Wannamaker hat Parallels für vier E-Gitarren gleich selbst realisiert, indem er ebenfalls die Spuren einzeln im Playbackverfahren aufzeichnete. Den sicher beeindruckenden Raumklang, den die schillernden, vibrierenden Töne im weiten Foyer des Wittener Saalbaus entfalten sollten, musste man sich allerdings dazu fantasieren. Für Hugues Dufourts L'Atelier rouge d'après Matisse agieren die Mitglieder des Ensemble Nikel völlig unabhängig voneinander koordiniert per Clicktrack, was sich im Split Screen des dazugehörigen Videos spiegelt. Doch während man den mal geheimnisvoll schwebenden mal hektisch schrammelnden und knarzenden Klangexperimenten der vier Musiker auch ohne visuelle Unterstützung gut folgen kann, würde mir ohne die Videobeigaben der Neuen Vocalsolisten etwas fehlen. Mit gehörigem Abstand voneinander aber immerhin im gleichen Raum inszenieren sie Lucia Ronchettis a cappella cabaret Never Bet the Devil Your Head nach einer Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe, bei dem mit viel Theatralik und Echos aus Zirkusmusik und Kabarett der arme Toby Dammit um Kopf und Kragen gebracht wird. Auch Gordon Kampe greift in I forgot to remember to forget mal wieder lustvoll in die Mottenkiste und lässt die Vocalsolisten zusätzlich als Schlager zerscratchende DJs agieren, aber bei aller beeindruckenden Virtuosität der Sängerinnen und Sänger stoßen die Heintje- und Rudi Carrell-Witzischkeiten letztlich doch an ihre Grenzen. Der Titel von Carola Bauckholts neuem Werk Witten Vakuum wirkt wie ein aktueller Kommentar zur gähnenden Leere der Konzertsäle, bezieht sich jedoch auf die Sauggeräusche, die die beiden Vokalistinnen durch mit der Mundhöhle verbundene Staubsaugerröhren erzeugen – ein mit Stimmklängen kontrapunktiertes Schlürfen, Meckern und Gurgeln, das sich aber nach anfänglich neugierigem Aufhorchen rasch erschöpft.

Als Composer in Residence war in diesem Jahr der spanische Komponist Alberto Posadas vorgesehen, der in einem Gesprächskonzert Auskunft über sein Schaffen gibt. Er versteht sein Komponieren als philosophische Tätigkeit, als ethische Aufgabe und Form des Widerstands, die sich der Schnelllebigkeit unseres Alltags, der Notwendigkeit, immer sofort reagieren zu müssen, entgegenstellt. Zum Ausdruck kommt dies in musikimmanenten Konzeptionen, denen ein intensives Eintauchen in die Klangerzeugung, ein Erforschen und Redefinieren der Instrumente und eine Vermittlung zwischen instrumentalen und elektronischen Klangwelten zu Grunde liegt. Sein neuer Zyklus Poética del camino für sechs Stimmen und zehn Instrumentalisten blieb allerdings aufgrund der Besetzungsgröße auf der Strecke, so dass nur ältere Werke erklangen, u.a. das bereits 2013 in Witten uraufgeführte Sombras. Ebenfalls nicht realisiert wurden die drei für das WDR Sinfonieorchester geschriebenen Werke von Arnulf Herrmann, Josep Planells Schiaffino und Marco Stroppa, die jedoch sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt aus der Taufe gehoben werden.

Bei der geplanten Klanginstallation Kupferhimmel von Christina Kubisch entschied man sich für eine Zwischenlösung, indem man zumindest die Klangspur präsentierte und damit Lust auf mehr machte. Kubisch wollte uns unter einem Himmel aus Kupferkabeln durchs Märkische Museum wandeln lassen, wobei jeder über Kopfhörer einem individuellen Gespinst aus Field Recordings, instrumentalen und elektromagnetischen Klängen lauschen sollte. Brigitta Muntendorfs Theater des Nachhalls liegt eine intensive Zusammenarbeit mit dem Pianoduo GrauSchumacher zugrunde. In drei Videos, die gleichzeitig auf großen Leinwände präsentiert werden sollten, agieren die beiden in einer reduzierten, stark stilisierten und gleichzeitig unmittelbar-sinnlichen surrealen Parallelwelt, die sich in geschrumpfter Form auf dem heimischen Laptop nachempfinden lässt.

Fazit: Ich bin länger als gedacht bei der Stange geblieben und habe mir vieles noch im Nachhinein angehört und angeschaut. Witten 2020 als Radioversion ist ein gelungenes Experiment und man kann dem WDR und allen Beteiligten gar nicht genug dafür danken, dass sie dies ermöglicht haben. Trotzdem freue ich mich jetzt schon auf Witten 2021, dann hoffentlich wieder vor Ort zwischen Saalbau und Märkischem Museum, mit Live-Musik und vor allem Live-Begegnungen.

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