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2020
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Gewesen:
NOW!-Festival in Essen
Extra:
Wolfgang
Rihm beim
ZeitGenuss-Festival
in Karlsruhe
Angekündigt:
Shinytoys-Festival in Mülheim
[NOW!-Festival
in Essen]
Heutzutage
Festivals zu planen ist keine einfache Aufgabe. Leicht
kann es
passieren, dass – wie in Donaueschingen – akribische Um-
und
Vorausplanungen im letzten Moment ausgebremst werden.
Das Essener
NOW!-Festival
ist diesem Schicksal mit knapper Not entgangen: Das
Auftaktwochenende
vom 30.10. bis 1.11. konnte wie geplant vor Publikum
stattfinden,
während die Folgeveranstaltungen teils gestreamt teils
verschoben
wurden. Das diesjährige Festivalmotto 'Von fremden
Ländern und
Menschen' (benannt nach dem ersten Stück aus Schumanns
Kinderszenen)
erwies sich als Fluch und Segen zugleich. Einerseits
scheiterte die
Mitwirkung von Menschen aus fremden Ländern teilweise
an den
aktuellen Reisebeschränkungen, andererseits bot sich
uns zwangsweise
Daheimgebliebenen die Möglichkeit zu einer
musikalischen Weltreise.
Denn die Menschen aus fernen Ländern sind längst hier
und das Spiel
mit dem Fremden, die Suche nach der eigenen Identität
und die Lust
an Grenzüberschreitungen beschäftigt die moderne Kunst
und Musik
seit ihren Anfängen. Konzerte mit zeitgenössischer
Musik sind ohne
Komponistinnen und Komponisten mit
Migrationshintergrund kaum
vorstellbar. Oft unterscheidet sich ihre musikalische
Sprache
allerdings kaum von der ihrer europäischen Kollegen,
denn viele sind
bereits in ihren Heimatländern mit westlicher Klassik
aufgewachsen
und haben ihre Ausbildung anschließend in den Zentren
der
europäischen Avantgarde fortgesetzt. Der Blick auf die
eigene
Herkunft erfolgt häufig erst aus der Ferne, denn, wie
Elnaz
Seyedi
es formuliert: „Man braucht Abstand, um sehen zu
können“. Im
Konzert mit der Musikfabrik
erklang ihr neues Werk fragments
inside,
in dem riesige, von Harry Partch entwickelte
Saiteninstrumente zum
Einsatz kommen, deren ungewöhnliche Stimmung Seyedi an
persische
Musik erinnert. Neben ihr waren mit Malika
Kishino
(*1971), Unsuk
Chin
(*1961) und Younghi
Pagh-Paan
(*1945) weitere bekannte Namen der Neue Musik-Szene
vertreten, deren
musikalische Sprache bei aller Individualität fest in
dieser
verwurzelt ist. Daher war es besonders spannend, in
Essen auch
unbekannte Namen und andere Ansätze kennenzulernen. Im
Werk des
jungen türkischen Komponisten Mithatcan Öcal (*1992) Belt
of Sympathies klingen
volkstümliche Melodien an (im ersten Satz ein Wiegen-,
im zweiten
ein Trauerlied), die jedoch nicht folkloristisch
ausgestellt oder –
schlimmer noch – mit westlichen Harmonien
glattgebügelt werden.
Stattdessen sind sie atmosphärisch präsent, wie ferne
Erinnerungen,
mehr spür- als greifbar, sich auflösend in einer
sensiblen
Orchestersprache, die im dritten und letzten Satz in
turbulente
Wallungen gerät. Neben Pagh-Paan (Lebensbaum
III)
und Öcal, der 2019 mit dem Komponisten-Förderpreise
der Ernst von
Siemens Musikstiftung ausgezeichnet wurde, kam in dem
Konzert mit dem
WDR Sinfonieorchester auch ein Werk von Claude Vivier
zu Gehör, der,
selbst zeitweilig in Asien lebend, in Zipangu
ein mythisches Japan beschwört.
Drei
sehr unterschiedliche Werke brachte das E-Mex
Ensemble
zur Uraufführung: Füsün
Köksal
lässt in quelle'd
eine Bassdrum-Figur in sieben kurzen Abschnitten
verschiedene
Aggregatzustände durchlaufen, die von 'hektisch' und
'energetisch'
über 'mächtig und beharrlich' bis zu 'müde und ohne
Energie'
reichen. Zaid
Jabri,
der in seiner Heimatstadt Damaskus sowie in Krakau
studierte, will
sich ausdrücklich nicht in Ost-West-Schubladen
einordnen lassen und
integriert in Hemispheres
das gleichnamige Gedicht der New Yorker Dichterin
Yvette Chrisiansë
in Form eines Sprechgesangs und Dima
Orshos
The
Soul of Places – Places of the Soul ist
mit den von Hasti Molavian angestimmten
einschmeichelnd-klagenden
Gesängen eher in der Weltmusik-Szene zu verorten.
Die
Vielfalt aktueller Kompositionsansätze kommt auch in
Önder Baloğlus
Projekt Unvoiced
Diaries
zum Ausdruck. Baloğlu, Geiger und Konzertmeister der
Duisburger
Philharmoniker, lud 24 türkische Komponisten aus den
unterschiedlichsten Ecken der Welt ein, ein Werk für
Solo-Violine
mit einer maximalen Länge von einer Minute zu
komponieren, wobei sie
sich ausdrücklich „mit der durch die Coronakrise in
den
Konzertsälen entstandenen Stille auseinandersetzen'“
sollten. Die
meisten zeigten sich allerdings recht gesprächig, in
mal
konventionellem, mal avanciertem, mal jazzigem
Dialekt.
Ich
beziehe mich hier auf die Live-Konzerte des ersten
Wochenendes, aber
wie erwähnt ging es im November digital weiter.
Folgende
Veranstaltungen wurden gestreamt und sind weiterhin
auf dem
Youtube-Kanal der Essener Philharmonie verfügbar: der
Auftritt
des Ensembles S 201, Órganos
mit Bernhard
Haas
und Studierenden
der Folkwang Uni
sowie die Klanginstallation
Sound
Scapes around the World. Das
für das Museum Folkwang geplante Konzert mit
Klassikern der Neuen
Musik wurde bereits im Sommer mit leicht geändertem
Programm in der
Folkwang Universität aufgenommen (Teil
1
und Teil
2)
und das Konzert
mit dem Radio Filharmonisch Orkest unter der Leitung
von Markus
Stenz ist in der Mediathek des niederländischen
Radiosenders NPO
Radio 4 nachzuhören. Das dritte Sinfoniekonzert der
Essener
Philharmoniker mit Alexej Gerassimez wird am 12.2.2021
vom WDR
ausgestrahlt, das Konzert Afro-Modernism
mit dem Ensemble Modern ist am 20.12.20 im
Deutschlandfunk zu hören,
der Auftritt des Ensembles Splash – Perkussion NRW
wird in der
kommenden Spielzeit nachgeholt und ab 25.11.
präsentieren die
Mitwirkenden des NOW!-Schulprojekts Sound
Lab
ihre Ergebnisse in digitaler Form.
[Wolfgang
Rihm beim ZeitGenuss-Festival in Karlsruhe]
Bereits
im Sommer habe ich mit einem Bericht über das Festival
intersonanzen
in Potsdam einen Blick über die Grenzen von NRW hinaus
geworfen (s.
Gazette September
2020).
Diesmal führte mich mein Weg nach Karlsruhe, wo vom 22.
bis 25.10.20
kurz vor dem erneuten Lockdown das 12. ZeitGenuss-Festival
stattfand. Schon bei seiner Gründung hatte Wolfgang Rihm
seine Hand
und seine Ideen im Spiel und ihm ist auch der Name zu
verdanken, der
in für ihn typischer Weise mit den Begrifflichkeiten
spielt und die
Zeitgenossenschaft mit dem Genuss verknüpft. Überhaupt
sind Rihm,
Karlsruhe und die Neue Musik aufs engste miteinander
verbunden: Er
ist hier geboren und aufgewachsen, hat schon während
seiner
Schulzeit ein Kompositionsstudium bei Eugen Werner Velte
an der
Karlsruher
Musikhochschule
begonnen und übernahm 1985 dessen Lehrstuhl
für Komposition,
den er bis heute inne hat. Seit 2013 ist seine Präsenz
sogar Stein
geworden durch den Bau des Wolfgang-Rihm-Forums, Teil
eines
imposanten Neubaus, der neben dem wiederaufgebauten
Renaissanceschloss Gottesaue den Campus prägt, und so
war es nur
folgerichtig, ihm 2020 das gesamte Festival zu widmen.
Gleich zum
Auftakt vermittelten zwei SWR-Dokumentationen einen sehr
persönlichen
Blick auf seine Person. Besonders in dem gerade erst
entstandenen
Beitrag
Das
Vermächtnis
sprechen
er und seine Frau auf sehr offene und berührende Weise
über seine
fortschreitende Krebserkrankung und ihren Umgang
damit. Doch
besonders durch den auch von Rihm kritisierten Titel
bekommt der Film
fast den Charakter eines Nachrufs und untergräbt damit
Rihms eigene
Haltung. Denn Wolfgang Rihm ist noch sehr lebendig, er
komponiert,
unterrichtet und genießt und seine Präsenz prägte das
Festival.
Bei allen Konzerten war er anwesend, richtete
Eröffnungsworte an das
Publikum, nahm an einer Podiumsdiskussion teil,
moderierte das
Abschlusskonzert und sprach zum Schluss in bewegenden
Worten seinen
Dank aus an die Stadt und die Menschen, die ihm dies
alles ermöglicht
haben.
Natürlich
stand auch das ZeitGenuss-Festival unter dem Bann der
Coronapandemie,
große Werke für Orchester oder Musiktheater waren
nicht
programmierbar, doch man verstand es, aus der Not eine
Tugend zu
machen. So führte die Suche nach coronatauglichen
Räumlichkeiten in
die Kirchen der Stadt und die dortigen Orgeln zu Rihms
Frühwerk, das
gerade erst von Martin
Schmeding
in einer vier CDs umfassenden Edition
(davon zwei Drittel als Werkersteinspielungen)
vorgelegt wurde. Schon
als junger Mensch verschaffte sich Rihm Zugang zu den
Orgeln der
Stadt, sie waren für ihn 'Ermöglichungsinstrument
großen Klangs'
und auch wenn dabei naturgemäß noch viel Wildwuchs
mitschwingt
spürt man deutlich seine Lust am Ausdruck und an der
großen Geste,
aber auch seine Entschlossenheit, sowohl die Tradition
im Blick zu
behalten als auch Neuland zu erobern. Diese Stränge
vereinen sich
auf kongeniale Weise in den Ende der 70er/Anfang der
80er Jahre
entstandenen Liederzyklen, die den Duktus romantischen
Liedguts mit
aggressiv-überbordender Exaltation verbinden. Der
Bariton Georg
Nigl,
dessen Konzert mit der Pianistin Ilonka
Heilingloh zu den
Highlights des Festivals gehörte, kostet die
verhaltenen Passagen im
Wölfli-Liederbuch
und den Neuen
Alexanderliedern intensiv
aus, so dass die eruptiven Momente um so stärker unter
die Haut
gehen. Im Vergleich dazu herrscht im 2015 entstandenen
Zyklus Dort
wie hier eine
eher ruhige Grundhaltung, doch durch die siebenfache
Wiederholung und
immer wieder neue Ausleuchtung eines einzigen
Heine-Gedichtes,
entwickelt sich unterschwellig eine insistierende
Dringlichkeit. In
Vermischter
Traum
(2017) können die Texte von Andreas Gryphius („Ich bin
nicht, der
ich war, die Kräfte sind verschwunden,....,ich werde
von mir selbst
nicht mehr in mir gefunden.“) auch als
Auseinandersetzung Rihms mit
der eigenen Krankheit und Endlichkeit gelesen werden,
die er jedoch
nicht in klagende geschweige denn anklagende, sondern
noch immer
kraftvolle Töne überträgt.
Rihms
Kreativität zeichnet sich durch ein netzartiges
Wuchern aus, bei dem
Ideen, Klänge, Menschen, Worte, Bilder auf
unvorhersehbare und doch
stimmige Weise zusammenfinden. Sein
'gesamtästhetisches Organ'
schlägt Brücken zu Literatur und bildender Kunst und
durch sein
Œuvre mäandern sich verzweigende Abstammungsketten,
bei denen ein
Werk durch Überschreibung oder Übermalung eines
anderen entsteht.
In Geste
zu Vedova für
Streichquartett (2015), interpretiert vom Kölner Asasello
Quartett,
transformiert er die kraftvollen Setzungen des
italienischen Malers
in heftige, wie hin gepeitschte Striche. Gejagte
Form,
das in einem Konzert mit der Badischen
Staatskapelle
unter der Leitung von Gerhard Oppitz erklang, ist Teil
des
Werkkomplexes Jagden
und Formen.
In der Literatur faszinieren ihn vor allem die 'nicht
Geheuren' wie
Wölfli, Lenz, Herbeck und Artaud, doch er betont
ausdrücklich, dass
sie ihm nicht zu Lebensvorbildern wurden; er ließ sie
durch sich
hindurchgehen, ohne sich von ihnen vereinnahmen zu
lassen. Offenbar
verfügte er schon früh über einen inneren Bezugspunkt,
der es ihm
ermöglichte, bei aller Offen- und Durchlässigkeit sein
Eigenes zu
gestalten und zu bewahren. Zeitweilig faszinierte ihn
die Linie, die
Horizontale, die in Über
die Linie I
für Violoncello (Lukas Fels) und Über
die Linie VII
für Violine (Tianwa Yang) sich scheinbar ohne Anfang
und Ende
verströmt und um sich selbst kreist. Sie zieht sich
wie ein roter
Faden auch durch das Konzert der aktuellen
Kompositionsklasse von
Markus Hechtle und Wolfgang Rihm, bei dem vieles noch
sehr vorsichtig
und konventionell klingt. Der Titel Bagatellisierungen
eines Klavierzyklus von Haosi Howard Chen geht gar auf
einen Alptraum
zurück, in dem ein strenger Zensor mit dem Verdikt
'nicht
experimentell genug' droht. Einzig Alexander Pilchen
schert aus mit
seinem Stück Quintessenz
für Violoncello, Klavier und Video, in dem rabiate
Töne und
skurrile Texte auf ironisch-verklausulierte Weise das
Lehrer-Schüler-Thema anklingen lassen.
Wohin
das noch führen kann, zeigte besonders eindrucksvoll
das
Abschlusskonzert, in dem Studierende der
Musikhochschule unter der
Leitung von Peter Tilling Werke von Markus Hechtle,
Rebecca Saunders,
Vito Žuraj
und Márton Illés interpretierten, die alle vier bei
Rihm studiert
haben und von denen jeder seine eigene Sprache
gefunden hat. Rihm hat
nicht nur in seinem eigenen Werk sondern auch in
seinem Umfeld
fruchtbare Samen gesetzt, es bleibt zu hoffen, das ihm
dies noch
lange vergönnt ist.
[angekündigt]
Wie
es aussieht werden wir auch den Rest des Jahres auf
Live-Konzerte
verzichten müssen und da mich auch der erneute
Lockdown nicht so
recht in die Online- und Streaming-Welt locken konnte,
verzichte ich
darauf, hier entsprechende Hinweise zu geben. Ein
kleiner Tipp sei
mir aber doch gestattet: Das im Makroscope
in Mülheim an der Ruhr beheimatet shinytoys-Festival
geht unter dem Motto „Digital ist besserer“ online und
lädt ein,
„to guide robot avatars through the rooms from home.
Chaotic robot
clackers, digital and mechanical heat replacements,
fender damage and
error messages included“ Wer sich also nicht nur
berieseln lassen
sondern „an active participant in a constantly
evolving audiovisual
composition“ werden möchte, kann sich am 4.12.
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