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[Wittener Tage für neue Kammermusik 2021]
Als
vor einem Jahr die Wittener Tage für neue
Kammermusik 2020 erstmals
in ihrer Geschichte nicht live vor Ort sondern als
Radio- und
Online-Festival präsentiert wurden, waren viele von
uns noch
zuversichtlich, dass es sich hierbei um einen
einmaligen Ausrutscher
handelt und wir uns spätestens 2021 in alter Frische
zwischen
Saalbau und Märkischem Museum wiederfinden werden.
Die
Coronapandemie hat uns leider eines Besseren
belehrt, doch während
der WDR dazugelernt hat und vom 23. bis 25.4.21 ein
hochprofessionelles Festival durch den Äther und ins
weltweite Netz
schickte, sind meine persönlichen Fortschritte
bescheidener. Auch
nach einem Jahr zwischen Streamings und Podcasts
kommt keine rechte
Begeisterung auf. Was da aus dem WorldWideWeb
angespült wird, ist
zwar vielfältig und interessant, aber dieses
Prickeln und Knistern,
dieses besondere Gänsehautgefühl, das mich beim
Live-Erleben gerade
Neuer Musik mit zuverlässiger Regelmäßigkeit
überkommt, will sich
nur sehr selten einstellen. Als Informationsmedium
möchte ich das
Netz nicht mehr missen, aber sobald die sinnlichen
Elemente ins Spiel
kommen (sollten), die für mein Menschen-, Kunst- und
Musikerlebnis
konstitutiv sind, werden die Maschen für mich
löchrig. Und
ausgerechnet in dem Jahr, in dem ich unaufhaltsam
auf meinen 60.
Geburtstag zusteuere (ein Datum, das mir
normalerweise wenig
Kopfzerbrechen bereitet), kommt der grausame
Verdacht auf, dass es
sich hierbei um ein Generationenproblem handeln
könnte, ich also
langsam aber sicher zum alten Eisen gehöre. Die
sogenannten
digitalen Eingeborenen scheinen sich wie die Fische
im Internet zu
tummeln, während ich immer erst knietief durch
innere und äußere
Hemmnisse waten muss. Wenn ich dann endlich in
tieferen Gewässern
angekommen bin, bin ich womöglich zu träge oder zu
schlecht
gerüstet, um weit genug hinauszuschwimmen. Aber
trotz dieser
altersbedingten Einschränkungen habe ich mich nicht
abschrecken
lassen, die heimischen Empfangsgeräte in Stellung
gebracht und
gleich mit dem ersten Werk holte Mauro
Lanza
mich ganz gut ab, da er genau dieses Spiel mit
Nostalgie und Technik
zum Thema macht. In seinem dreiteiligen Aether
is an haunted place trifft
ein Streichquartett auf manipulierte Radiowellen und
analoge
Störgeräusche, Satellitensignale und Geisterstimmen.
Daraus
entsteht ein knisterndes, knarzendes Irrlichtern,
bei dem die
instrumentalen und elektronischen Ebenen auf
komplexe Weise und bis
zur Ununterscheidbarkeit interagieren und für das –
wie ich
zugeben muss – die Rezeption per Kopfhörer nicht die
schlechteste
ist. Auch Sasha.
J. Blondeau
kombiniert in Des
mondes possibles
das Quatuor
Diotima
mit elektronischen Klängen, wählt aber einen
abstrakteren
Ausgangspunkt, indem er sich von topologischen
Räumen inspirieren
lässt, und bleibt gleichzeitig näher an den
Streicherklängen, die
flirrend und vibrierend schließlich in schwindelnde
Höhen
entgleiten. Entstanden sind die Aufnahmen in Paris
unter Mitwirkung
des IRCAM und auch einige andere Konzerte wurden in
den Heimatorten
der beteiligten Musiker aufgezeichnet. So waren das
Klangforum
aus Wien und das Ensemble
Ascolta
aus Stuttgart zugeschaltet. Aus Wien erreichte uns Subsonically
Yours
von Mirela
Ivičević,
die nach eigenen Angaben mit diesen unhörbaren
Grüßen eines ihrer
leisesten Stücke vorlegt, wobei sich das Material
auf kleinem Raum
entfalte, ohne Energie zu verlieren. Dabei wechseln
sich huschende,
wuselnde Klänge ab wie verschiedene Aggregatzustände
– mal
innehaltend, mal auf der Stelle tretend, mal
quirlig-nervös. Zeynep
Gedizlioğlu
geht in Eksik
– Entzug
von den Stimmen der Ascolta-Musiker aus, die
undomestizierte raue
Laute hervorstoßen, entzieht sie auf diese Weise
ihrer normalen
instrumentalen Routine und erschafft so ein
tastendes, brüchiges
Klangbild. Michael
Pelzel
erkundet inspiriert von Glocken und Gongs The
dark side of Telesto. Der
Saturnmond, dessen dunkle Seite hier beleuchtet
wird, gilt als das
hellste Objekt unseres Sonnensystems und diese
Doppelbödigkeit
spiegelt sich auch in der Musik, deren ruhiger,
getragener, fast
schwermütiger Verlauf wiederholt von heftigen
Bläserattacken und
aggressiven Einbrüchen zerfurcht wird.
Zwar
ohne Zuhörer aber immerhin direkt aus dem Wittener
Saalbau erklang
das Konzert mit dem Ensemble
Schwerpunkt,
einem Blechbläserquintett, und dem Ensemble
Nikel,
das sich aus Klavier, E-Gitarre, Saxophon und
Schlagzeug
zusammensetzt. Ersteres hob die Werke von Zaneta
Rydzewska
und Bernhard
Gander
aus der Taufe. Ganders Messing
geht von den Ordnungszahlen von Kupfer und Zink (29
und 30) aus und
amalgamiert markante Rhythmen, untergründiges
Grummeln und nervöses
Schnattern. Rydzewska ließ sich für ihr Werk Zauberwürfel
von dem gleichnamigen Spielgerät inspirieren und
leitet daraus nicht
nur die klangliche Ebene sondern auch die Bewegungen
der fünf Bläser
ab. Auch Huihui
Chengs
vom Ensemble Nikel uraufgeführtes Werk Sonic
leak, eine
Studie über die Technik des Abdämpfens, beinhaltet
theatralische
Elemente, die in der radiophonen Variante auf der
Strecke bleiben. Im
Stream sieht man die Musiker mit allerlei Dämpfern
und
ungewöhnlichen Materialien hantieren, wobei die
klangliche Ebene
nach einem freejazzigen Auftakt immer löchriger
wird. Mit Hugues
Dufourts
L'Atelier
rouge d'après Matisse entfacht
Nikel einen sinnlichen Klangrausch mit komplexen
Texturen, die von
brachialen Akzenten der E-Gitarre verwirbelt werden.
Am
schwersten fällt der Verzicht auf das Live-Erlebnis
– zumindest
solange VR-Equipment noch nicht zur heimischen
Standartausrüstung
zählt – bei Werken, die die visuelle Ebene und den
Raum
einbeziehen wie bei Klaus
Langs
Zusammenarbeit mit Sabine
Maier,
die in nirgends
für
Ensemble und projiziertes Licht analoge Projektoren
zum Einsatz
bringt. Langs dichte Klangflächen, die mal von
harschen Impulsen der
E-Gitarre, mal von zartem Klirren und Klingeln zum
Beben gebracht und
zwischenzeitlich vom Klacken und Surren der
Projektoren abgelöst
werden, erklingen in einem unbestimmten Raum, der
von diffusen Licht-
und Rauchzeichen mehr angedeutet als ausgeleuchtet
wird. Der
Computerbildschirm kann hier nur eine vage Ahnung
vermitteln. Das
gleiche gilt für Brice
Pausets
Vertigo/Infinite
Screen,
eine intermediale Komposition für Ensemble in 6
Gruppen, 18
Bild-Module und Elektronik, dessen visuellen Teil
das Duo Arotin
& Serghei
beisteuert. Pauset, der mit weiteren Werken und
einem Porträtkonzert
vertreten war, pflegt nicht nur – gespeist durch
seine Erfahrungen
als Pianist und Cembalist – eine intensive
Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit, sondern lässt auch philosophische
und
gesellschaftskritische Aspekte in sein Werk
einfließen. Vertigo
ist Teil eines Werkzyklus, der sich nicht weniger
als ein Porträt
des 20. Jahrhunderts vorgenommen hat und zu dem auch
seine Kafka-Oper
Strafen
zählt. Ausgehend von Hitchcocks berühmtem Film
reflektiert Pauset
Themen wie Wahrnehmung, Kino und Psychoanalyse,
jedoch auf so
komplexe Weise, dass ich ihm – noch dazu in der
reduzierten
Darbietungsform – kaum gerecht werden konnte. Auch
in seinem Werk
Konzertkammer,
das vom WDR Sinfonieorchester mit Jean-Pierre
Collot
am Piano uraufgeführt wurde, greift Pauset
gedanklich weit aus,
indem er ausgehend von den Verwerfungen der
Finanzkrise die
Abhängigkeit von Strukturen ergründet, aber man kann
das Werk auch
ohne diesen Hintergrund als turbulentes Wechselspiel
zwischen Klavier
und Orchester genießen.Die
in Witten üblichen Freiluftaktionen sollten diesmal
im sogenannten
Schwesternpark stattfinden, einem versteckten und
verwunschenen
Garten, der Anfang des 20. Jahrhunderts von Adolf
Schluckebier als
Erholungsstätte für die Schwestern des benachbarten
Krankenhauses
angelegt wurde. Das hätte wirklich hervorragend zur
derzeitigen
Pandemielage gepasst, doch so sehr sich Kornelia
Bittmann und der
amtierende Gartenbautechniker Burkhard Bredenbeck
auch mühten, dem
Hörer das Gelände und die geplanten 12
Klanginstallationen nahe zu
bringen: Es fühlt sich an, als wäre ich zu einem
opulenten Mahl
geladen worden, bekäme aber nur vollmundige
Beschreibungen der
avisierten Köstlichkeiten geboten und müsste mit
leerem Magen von
dannen ziehen. Die Realisierung soll 2022 nachgeholt
werden und dann
lohnt sich sicher auch eine ausführlichere
Berichterstattung.Insgesamt
bin ich weiter hinausgeschwommen als gedacht, aber
am Ende steht die
Hoffnung auf 2022 zwischen Saalbau und
Schwesternpark. (Alle Konzerte
sind ein Jahr lang in der Mediathek
des WDR verfügbar.)
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